Schubert spielen für Hitler

Zwischen der Trennung von Günter Quandt und der Heirat mit Joseph Goebbels lag eine schmale Zeitspanne, in der das Leben der Frau, die einmal Johanna Maria Magdalena Behrend hieß, eine andere Richtung hätte nehmen können. Nora Bossong macht sich in ihrem neuen Roman „Reichskanzlerplatz“ auf die Suche nach verpassten Möglichkeiten.

Nach dem Tod seines Schulfreundes Hellmut Quandt kann Hans Kesselbach kaum noch schlafen. Er blickt auf eine Gardine, die von vorbeifahrenden Autos erhellt und dann wieder ins Dunkel der Nacht getaucht wird.

Es war, als liefe auf dieser Leinwand mein Leben ab, zersprungen in zwei Teile, in den einen, in dem ich das, was ich brauchte, nicht bekommen hatte, und den anderen, in dem es das, was ich begehrte, nicht gab.

Dieses deprimierende Lebensgefühl teilt der Ich-Erzähler mit Hellmuts Stiefmutter Magda, die aus bürgerlichen Verhältnissen stammt, kulturelle Interessen pflegt und durch die Heirat mit Günther Quandt in die Upper Class der Weimarer Republik befördert wird. Doch das Leben an der Seite eines Großindustriellen füllt sie nicht aus. Magda und Hans stürzen sich in eine seltsame Affäre – sie, um aus dem goldenen Käfig ihrer Ehe auszubrechen, er, um seine Homosexualität zu verschleiern, beide, um dem Sinn des Lebens wenigstens ein kleines Stück näher zu kommen.

Doch das Verhältnis ist nicht von Dauer. Magda fühlt sich immer stärker von den radikalen Ideen des aufstrebenden Nationalsozialismus angezogen und heiratet 1931 Joseph Goebbels. Als Frau des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda und Vorzeigemutter des Dritten Reiches verbündet sie sich vorsätzlich mit einem mörderischen Regime, das ihren früheren Liebhaber allerdings ebenfalls in seinen Bann schlägt.

Zwar bildet sich Hans ein, im diplomatischen Dienst des faschistischen Deutschlands nur seine Pflicht zu tun. Doch in Wahrheit bleibt es nicht beim friedfertigen Aktenstudium, einer mühsam arrangierten Scheinehe, der formalen Mitgliedschaft im Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen oder dem Abonnement des „Völkischen Beobachters“. Um nicht als ideologischer Zweifler oder gar als praktizierender Homosexueller entdeckt zu werden, schlägt sich Hans immer weiter auf die Seite der Täter, bis er seine Rolle bei der Verfolgung und Deportation jüdischer Mitbürger nicht einmal mehr vor sich selbst verbergen kann.

Nora Bossong zeichnet mit gemächlichem Anfangstempo und hoher Beschleunigung das Bild einer Gesellschaft, die von der Freiheit erschöpft ist und sich der Diktatur nahezu widerstandslos ausliefert. In Magdas Nach-Scheidungs-Domizil am Reichskanzlerplatz, der schon im April 1933 in Adolf-Hitler-Platz umbenannt wurde, treffen sich unheimlich Gleichgesinnte zu einem harmlosen Beisammensein. Wer da umherspaziert, raucht oder Schubert hört, scheint niemanden zu interessieren. Kulturelle Bildung bietet – vor allem beim Gebrauch zu rein dekorativen Zwecken – eben keinen Schutz vor extremistischer Gesinnung.

Frauen in festlichen Kleidern haben sich auf dem Fauteuil niedergelassen, und Herren flanieren mit angeheitert staatstragender Miene umher. Jemand öffnet ein Fenster, um die von Zigarettenrauch stickige Luft zu erfrischen, und wir hören den um den Platz kreisenden Verkehr. In einer Ecke steht der Österreicher.
Seine Miene ist nicht so düster wie auf den Plakaten, er lauscht aufmerksam der Musik, tritt einen Schritt näher und blickt mir über die Schulter auf die Finger.
Schubert, sage ich.
Es geht zu Herzen, antwortet Hitler.

Es ist ein Versagen auf allen Ebenen, das auch die resignierende Opposition erfasst hat. Den standhaften Sozialdemokraten und ehemaligen preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun stört der Erzähler im Schweizer Exil bei der Gartenarbeit. Der Mann, der einst der „rote Zar“ genannt wurde, kniet nun zwischen abgeernteten Bohnen und Kartoffeln. Immerhin findet er hier einen bedeutungsschweren Satz, der die erzählte Zeit in unsere Gegenwart kippt:

Die Deutschen haben die Demokratie so schnell vergessen wie eine Vokabel aus der Schulzeit.

Die Leserinnen und Leser können der Frage, wie es mit ihrer eigenen Bereitschaft, sich im Hier und Jetzt für Demokratie und Freiheit, Toleranz und Menschenrechte einzusetzen, nicht ausweichen, auch wenn sie ihnen auf keiner Seite explizit gestellt wird. Die kluge Verbindung zwischen historisch verbürgten Personen und Fakten und einem halbfiktionalen Erzähler, der im realen Leben den Namen Fritz Gerber getragen und eine völlig andere Rolle gespielt haben mag, lässt Raum für Interpretationen, die weit über die Lektüre hinausreichen reichen. „Reichskanzlerplatz“ ist deshalb nicht nur eine literarische Aufarbeitung des Nationalsozialismus, sondern mehr noch ein bedeutsamer Beitrag zu aktuellen politischen Debatten in Deutschland und Europa.

Nora Bossong: Reichskanzlerplatz, Suhrkamp, 25 €