Auch große Geschichten beginnen oft mit einer kleinen Beobachtung. Es geht gar nicht darum, sofort einen fulminanten Gedanken zu haben. Viele Autorinnen und Autoren schaffen ihre Geschichten eher aus dem Zusammentreffen kleinerer Inspirationen als aus der einen großen Idee. Daher ist es hilfreich, die Augen und Wahrnehmungen zu öffnen und kleine Dinge zu finden und festzuhalten.
Eine Geschichte hat mitunter ihren eigenen Willen. Nicht immer läuft sie so, wie wir es uns vorgestellt haben. Es macht Sinn, beim Schreiben der Inspiration zu folgen oder neue Inspirationen aufzunehmen. Aus der Ideenforschung ist bekannt, dass bahnbrechende Ideen eher aus dem Zusammenspiel mehrerer kleiner Ideen entstehen, die zu Beginn scheinbar nicht viel miteinander zu tun haben, außer dass sie zum Beispiel im selben Notizbuch festgehalten werden. Es lohnt sich also, ein Notizbuch (egal ob analog oder digital) dabei zu haben, um Ideen oder Beobachtungen, die einen ansprechen, festzuhalten. Es reicht das Gefühl im Bauch, dass man hier etwas gesehen hat, was interessant ist. Man muss es nicht immer sofort benennen können. Die Kunst des Schreibens besteht ja auch darin, uns selbst im Entstehungsprozess zu überraschen, selbst wenn wir uns mit der Schreibtheorie bestens auskennen.
Ein Gewächshaus für Geschichten
Jetzt im Frühling bietet es sich an, in die Natur zu gehen, wo es sprießt und wächst und Pflanzen ihren Weg ans Licht suchen, scheinbar gegen alle Widerstände. Für sie müssen die richtigen Bedingungen zusammenkommen: Licht, Wasser, Wärme, Boden. Das Zusammenspiel muss stimmen, damit eine Pflanze wächst. So ist es auch bei Geschichten: Wir brauchen Ruhe, Inspiration und einen sicheren Raum, in dem die Geschichten wachsen dürfen, bis sie groß genug sind, um von anderen gesehen zu werden.
Wie bei zarten Keimlingen kann schon eine geringe Störung alles kaputt machen. Für kleine Pflanzen kann ein kräftiger Regenschauer das Ende bedeuten – für eine zu früh geteilte Idee ein unbedachter Kommentar. Schaffen wir uns also eine Art Gewächshaus für unsere Geschichten, wo sie sicher vor Wind und Wetter heranwachsen dürfen, bis sie eines Tages reif sind, die geschützte Atmosphäre zu verlassen.
Nehmen Sie beim nächsten Spaziergang ein Notizbuch mit! Vielleicht lassen Sie auch das Handy mal zuhause. Hilfreich ist beim Spazieren in der Natur ein offener Geist, denn wenn wir alles, was wir sehen, sofort auf die Tauglichkeit für eine Geschichte abklopfen, überfordern wir die Ideen und uns. Versuchen wir, einfach Beobachtungen zu notieren. Es müssen hier auch keine ausformulierten Sätze herauskommen, es geht nicht um Eleganz, sondern darum, den Kern der Beobachtung zu erwischen. Warum schreibe ich diese Beobachtung auf? Was ist daran das Besondere? Und nicht: Was will ich später einmal damit anfangen? Das Sortieren, das Bewerten, das Zuordnen der Ideen kommt in einem zweiten Schritt. Beobachten lässt sich alles.
Ideengeber: Menschen, Tiere und Pflanzen
Viele denken jetzt zuerst an andere Menschen, denen man begegnet und es kann durchaus spannende Ideen hervorbringen, wenn man sich fragt, was die Menschen, die man beobachtet eigentlich warum tun? In der Natur lassen sich natürlich auch Tiere wunderbar beobachten: Was macht dieses Eichhörnchen da? Warum flitzt es den Stamm dieser dicken Linde immer wieder rauf und runter? An wen erinnert uns dieses Tierchen?
Aber auch Pflanzen können Ideen für Stories in sich bergen: Was muss diesem Baum passiert sein, dass er da in drei Metern Höhe keinen Haupttrieb mehr hat? Anstatt seiner wächst dafür nun ein Seitentrieb in die Höhe. Etwas muss den Baum verletzt oder gekappt haben und trotzdem ist er weitergewachsen, auf den ersten Blick wie früher und erst bei genauerem Blick sehen wir, dass hier etwas passiert ist. Was könnte das für das Leben eines Menschen bedeuten? Der ursprüngliche geplante Lebensweg wird zerstört, aber dann geht das Leben auf anderen Wegen weiter und die Verletzung im Lebenslauf bleibt zwar bestehen, wird aber überbrückt, geheilt, vielleicht vergessen? Schon ist da die Idee für eine Story mit einem Konflikt um ein zentrales Ereignis. Das geht nicht gut aus für den Protagonisten und erst im Laufe der Jahre findet sich ein neuer Lebensweg …
Also, gehen Sie raus und fangen Sie an, die Natur um sie herum mit den Augen eines Geschichten-Suchers zu sehen. Ein Geschichten-Sucher hat viel Ähnlichkeit mit Pipi Langstrumpfs Sachensucher: „Jemand der Sachen findet, wisst ihr. Was soll es anderes sein. Die ganze Welt ist voll von Sachen, und es ist nötig, dass jemand sie findet. Und das gerade, das tun Sachensucher.“
In einem ganz ähnlichen Sinn schrieb Rainer Maria Rilke in seinem Roman „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“: „Um eines Verses willen muss man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muss die Tiere kennen, man muss fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen.“
Die besten Geschichten werden nicht da auf Sie warten, wo schon alle Anderen danach gesucht haben. Suchen Sie lieber da, wo Andere bisher noch nicht waren.