Sein Lieblingslied

Das Archiv Historische Bildpostkarten ist der Sammelleidenschaft der Musikwissenschaftlerin Sabine Giesbrecht zu verdanken. Es umfasst rund 22.000 Karten – eine besonders interessante stellt Giesbrecht hier erneut unter dem Motto „Musik und Liebe“ vor.

Die junge Frau hat ihr schönstes weißes Kleid angezogen und sich an das Klavier gesetzt, das mit seinem geschnitzten Unterbau, den Verzierungen und Lämpchen an der Frontseite ein Blickfang in dem mit Nippes, Gemälden, Vorhängen und Teppichen ausgestatteten Salon ist.

Sie spielt sein Lieblingslied, das erfahren wir durch einen Druck auf der Rückseite der Karte. Sie spielt nur für ihn, für den Mann, der ihr gegenüber Platz genommen hat. Erwartungsvoll wendet sie ihm ihr Gesicht zu. Würde er nur ein wenig aufblicken, könnte er sehen, wie gespannt und aufrecht sie dasitzt und auf seine Reaktion wartet.

Er zieht es jedoch vor, ihren Blick nicht zu erwidern und hat auf dem Fauteuil neben der Tür Platz genommen, die Beine übereinander geschlagen, den Kopf auf den Arm gestützt, während seine Linke Halt am benachbarten Tisch sucht.

Ob ihm gefällt, was er hört und sieht, bleibt offen. Ohne erkennbare emotionale Regung verharrt er in seiner konventionellen Besucherattitüde. Sie hingegen möchte ihn mit ihrem Spiel offenkundig aus der Reserve locken, muss sich aber zurückhalten, wie es der traditionellen Frauenrolle der Zeit entspricht.