Wohl kaum ein bürgerlicher Politiker hat die Geschicke und die verfassungsrechtliche Entwicklung des Königsreichs Hannover bis 1866 so sehr beeinflusst wie Johann Carl Bertram Stüve (1798-1872). Anlässlich der Wiederkehr seines 150. Todestages im Jahr 2022 erinnert das Niedersächsische Landesarchiv an die Persönlichkeit und die Verdienste des weitgehend in Vergessenheit geratenen Osnabrücker Bürgermeisters, langjährigen Abgeordneten der Allgemeinen Hannoverschen Ständeversammlung, zeitweiligen hannoverschen Innenministers und Landeshistorikers.
Im Rahmen eines Nacherschließungsprojekts wurde der in der Abteilung Osnabrück aufbewahrte umfangreiche Nachlass Stüves nutzungsfreundlicher aufbereitet und der Zugang zur Korrespondenz Johann Carl Bertram Stüves, die zu einem Großteil im Familiennachlass Stüve im Osnabrücker Landesarchiv archiviert wird, für weitere Forschungen wesentlich verbessert.
Der Familiennachlass Stüve
Stüves Wirken hat sich an mehreren Stellen in der archivischen Überlieferung niedergeschlagen. Rückschlüsse auf Stüves landes- und kommunalpolitische Tätigkeit, seine wissenschaftlichen und gesellschaftlich-karikativen Aktivitäten finden sich in verdichteter Form im ➤ Bestand der „Stadt Osnabrück / Stadtsachen“ sowie in der verstreuten Aktenüberlieferung in den verschiedensten Beständen staatlicher und privater Herkunft.
Von herausgehobener Bedeutung aber ist der in Osnabrück archivierte Nachlass Johann Carl Bertram Stüves, der schwerpunktmäßig Unterlagen zur Geschichte des Fürstbistums und der Stadt Osnabrück sowie seine persönlichen Korrespondenzen beinhaltet. Innerhalb der gesamten schriftlichen Überlieferung zu Stüve nimmt die in 112 Aktennummern geordnete (NLA OS Erw A 16 Nr. 221-271, Nr. 273-312 und Nr. 314-332), umfassend erhaltene Korrespondenzüberlieferung eine ganz besondere Stellung ein.
Der Quellenwert der Korrespondenz
Insbesondere der Briefwechsel mit dem gleichaltrigen Friedrich Johannes Frommann, Verleger in Jena, gehört aufgrund seines Umfangs und seiner inhaltlichen Aussagekraft wohl zu den erstrangingen Selbstzeugnissen eines Vertreters des nordwestdeutschen Bürgertums des 19. Jahrhunderts. Die Briefe erlauben es, die Entwicklung Stüves vom jungen Studenten zum handelnden Politiker und Staatsmann bis zum stillen Beobachter des Zeitgeschehens und zum Geschichtsschreiber seiner Heimat nachzuzeichnen, auch wenn Stüve selbst im Alter freilich viel bescheidener als die späteren Historiker über seine Briefe dachte: „Die Gelehrten meinen zwar“, ➤ so schrieb er am 1. Mai 1870 an Frommann, „man könne die Leute am besten aus Briefen beurteilen. Ich glaube es nicht. In meinen Briefen wird eine Menge unreifer Gedanken stehen und sehr wenig von dem, was ich eigentlich nach ernster Überlegung gewollt habe.“ [Brief vom 1.5.1870].
Ohne Frage ist die Korrespondenzüberlieferung eine unschätzbare Quelle für die Erkenntnis des Menschen und Staatsmannes Stüve und seiner Zeit. Gerade die Briefe von Stüve an Frommann sind von einem vertrauten und zwanglosen ➤ Austausch von Gedanken und Gefühlen geprägt: „Meine Briefe an Dich, liebster Frommann, sind seit einiger Zeit in der Tat eine Art Tagebücher geworden, oder wenn Du willst, eine fortlaufende literarische Beichte und Du mein Beichtvater.“ [Brief vom 8.7.1828]
Für Stüve selbst waren sie eine probate Form der Reflektion, sich selbst ➤ Rechenschaft über seine und seiner Umgebung Wollen und Handeln abzulegen: „Sehr häufig … fasse ich meine besten Entschlüsse beim Briefschreiben, und deshalb ist das kein Zeitverlust.“ [Brief vom 23.5.1833]
Die überlieferten Briefe Johann Carl Bertram Stüves eröffnen Einblicke in das Individuum im Bürgertum im 19. Jahrhundert, in die sozialen Normen, Wertvorstellungen und Handlungsweisen eines Osnabrücker Bildungsbürgers.
Die Tiefenerschließung der Korrespondenzakten
Die nach Korrespondenzpartnern gebildeten Akten enthalten jeweils eine Vielzahl von Briefen, entweder im Original oder in Abschrift. Diese Korrespondenzbände waren im Archivinformationssystem „Arcinsys“ bislang online recherchierbar; allerdings waren sie lediglich summarisch erschlossen. Diese oberflächliche Erschließung war umso bedauerlicher, da der gesamte Nachlass nach DFG-Richtlinien vor wenigen Jahren digitalisiert worden ist. Die Digitalisate sind mit den Aktentiteln verknüpft und stehen seit Herbst 2019 ebenfalls über „Arcinsys“ online ohne Einschränkung zur Verfügung. Aufgrund des beschriebenen Erschließungszustandes war jedoch die inhaltliche Orientierung in den Digitalisaten und somit der Zugang zu den Briefen weiterhin sehr schwierig.
Nun bietet die Digitalisierung handschriftlichen Archivgutes nicht zwangsläufig eine bessere Benutzbarkeit der Dokumente. Es braucht zusätzliche Erschließungshilfsmitteln, um gezielter die gesuchten Dokumente ermitteln zu können. Während die Digitalisierung hilft, orts- und zeitunabhängig Archivgut nutzen zu können, hilft die Erschließung die richtigen Briefe zu ermitteln. Digitalisierung und Erschließung ergänzen sich also, erfüllen aber jeweils eigene Funktionen.
In einem zwölfmonatigen Erschließungsprojekt wurden die Stüve-Korrespondenzakten im Osnabrücker Landesarchiv mit den älteren Brief-Editionen von Gustav Stüve (Johann Carl Bertram Stüve nach Briefen und Erinnerungen, 2 Bde., Leipzig/Hannover 1900), Walter Vogel (Johann Carl Bertram Stüve: Briefe, 2 Bde., Göttingen 1959/1960) sowie Gustav Stüve und Georg Kaufmann (Briefwechsel zwischen Stüve und Detmold in den Jahren 1848 bis 1850, Hannover/Leipzig 1903) inhaltlich verknüpft.
Was heißt das konkret? In allen drei Editionen haben die Herausgeber Briefe aus dem Gesamtbestand ausgewählt und lediglich teilweise, mitunter auch nur in Auszügen wiedergegeben. Um die Briefeditionen mit den Erschließungsdaten und den damit verbundenen digitalisierten Briefen zu verzahnen, wurden im Rahmen des Projekts die edierten Briefe den jeweiligen Korrespondenzakten zugewiesen und im dazugehörigen Erschließungsdatensatz in der online zugänglichen Archivdatenbank einzeln nachgewiesen. Zusätzlich wurden die in den Briefen genannten Personen mit ihren Lebensdaten und Berufen erfasst. Dadurch wird es zukünftig möglich sein, die Personen mit den entsprechenden Normdatensätzen der GND (Gemeinsame Normdatei) zu verknüpfen. Das bedeutet eine optimierte Suche und ein verbessertes und schnelleres Auffinden der einschlägigen Stüve-Briefe.
Im Ergebnis wurde durch die Verzahnung der edierten Briefe mit den digitalisierten Korrespondenzakten der Zugang zur Stüve-Korrespondenz erleichtert und die Zugänglichkeit zu diesem nahezu lückenlosen Briefkorpus optimiert. Damit sind die Voraussetzungen gelegt, um zu einer angemessenen Darstellung und Beurteilung der vielschichtigen Persönlichkeit des Osnabrücker Politikers zu gelangen.
Öffentliche Tagung des Niedersächsischen Landesarchivs
Trotz der bewegten Biographie Johann Carl Bertram Stüves und seiner Verdienste als langjähriger Bürgermeister der Stadt Osnabrück, als Innenminister des Königreichs Hannover und als Vertreter Osnabrücks in der hannoverschen Ständeversammlung ist Stüve in der historischen Forschung, aber auch in der Stadtgeschichte Osnabrücks zunehmend in Vergessenheit geraten.
Anlässlich des 150. Todestages Johann Carl Bertram Stüves wird daher das Niedersächsische Landesarchiv in Kooperation mit der Stadt Osnabrück und dem Verein für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück e.V. am 5. und 6. Mai 2022 eine öffentliche Tagung im Museumsquartier Osnabrück durchführen. Dabei werden sein politisches und gesellschaftliches Wirken sowie seine Persönlichkeit und Verdienste näher beleuchtet und zentrale Stationen seines Wirkens und seine politischen und persönlichen Überzeugungen in den Blick genommen. Zugleich möchte die Tagung zu einer vertiefenden Auseinandersetzung mit der in weiten Teilen nach wie vor unbekannten Persönlichkeit Stüves sowie seiner Tätigkeit als Politiker, Jurist, Publizist und Historiker anregen.
Das vollstände Programm der Tagung finden Sie HIER. Die Teilnahme an der Tagung ist kostenfrei. Bitte schicken Sie Ihre verbindliche Anmeldung für die Tagung bis zum 25. April 2022 per E-Mail an: willkommen-mq4[at]osnabrueck.de