Aufgelesen (26): Ernst von Wildenbruchs Schauspiel „Die Haubenlerche“.
Was mit einer durchzechten Nacht beginnt, endet mit einer versuchten Vergewaltigung. In der Zwischenzeit verlieren sich Hoffnungen und Träume, doch am Ende bricht trotzdem ein neuer Tag an.
Exakt elf Monate nachdem Gerhart Hauptmann mit seinem Drama „Vor Sonnenaufgang“ am 20. Oktober 1889 die Epoche des deutschen Naturalismus eingeläutet hat, schlägt Ernst von Wildenbruch einen scheinbar verwandten und doch völlig anderen Ton an. Sein „modern-sociales Stück“ will zwar ebenfalls zeigen, „dass die Menschen so sind, wie sie sind“, und eben nicht so, wie sie sich ein idealistischer Großbürger „zurechtgemacht hat“. Aber die scharfe gesellschaftliche und ideologische Konfrontation bleibt aus.
Sie muss ausbleiben, weil Wildenbruch den fundamentalen Gegensatz von Kapital und Arbeit gar nicht erst aufbrechen lässt. Sein Fabrikbesitzer, der 34-jährige August Langenthal, ist nicht nur der erste Kritiker seines eigenen Standes, einer zynischen Oberschicht, an der „jede Empfindung (…) herunterläuft, wie Wasser“. August fühlt sich überdies berufen, die verarmte Cousine, den arbeitsscheuen Bruder und seine gesamte Belegschaft in ein „freies, gesundes Leben“ zu führen. Der Besitzbürger gehorcht dem karitativen Auftrag, den er sich selbst erteilt hat und sorgt ganz nebenbei dafür, dass der Staat hier nicht eingreifen muss. Um soziale und gesellschaftliche Probleme zu überwinden, reicht aus Langenthals empathischer Unternehmersicht ein bisschen guter Wille.
Da doktorn sie herum an der sozialen Frage, mit Vorschlägen und Gesetzen und Einrichtungen und wundern sich, daß alles nichts hilft. (…) Solche Fragen löst nicht der Staat, die löst der Mensch. Von uns muß die Sache ausgehen; jeder einzelne ist berufen.
Lene Schmalenbach, die im herrschaftlichen Haushalt für Ordnung und Sauberkeit sorgt, fesselt August denn auch nicht allein aufgrund ihrer körperlichen Attraktivität. Sie ist ebenfalls ein soziales Projekt, das per Eheschließung auf eine neue Daseinsstufe gehoben werden soll. Was die junge Frau davon hält, spielt für ihren Dienstherrn vorerst keine Rolle. Nach anfänglichem Zögern übernimmt er das Bild des Bruders, der Lene zur „Haubenlerche“ verniedlicht hat – und später versuchen wird, sein vermeintlich willenloses Opfer zu vergewaltigen.
Erst im letzten Moment ist August in der Lage, seine Verantwortung für die fatale Situation zu erkennen und die Rolle des Missionars mit der eines echten Hilfeleistenden zu tauschen. „Ja – es ist Tag geworden“, resümiert er schließlich – „und das neue Licht blendet.“
Ohne Sentimentalität und Larmoyanz kommt Wildenbruch nicht aus und der Vorwurf, er breche einem tiefgreifenden und überreifen Konflikt die Spitze ab, um ein affirmatives Versöhnungsszenario zu entwerfen, in das der Staat gar nicht eingreifen muss, war schon zu Lebzeiten nicht aus der Luft gegriffen. Gleichwohl ist die „Haubenlerche“ ein bemerkenswertes Seitenstück zu den naturalistischen Standardwerken von Arno Holz und Johannes Schlaf, Gerhart Hauptmann, Max Halbe oder Hermann Sudermann.
Wildenbruchs Figuren sind durchaus mehrdimensional und stoßen häufig an die Grenzen ihrer bisherigen Gefühle und Weltanschauungen. Das macht sie moderner als die Vielzahl der Kritiker vermuten lässt, die den Autor zum Inbegriff bürgerlicher Belanglosigkeit stempelten. Pars pro toto sei hier Gottfried Benn zitiert, der Wildenbruch in seinem Gedicht „Teil-Teils“ in die überlebte Welt der kulturell desinteressierten Väter kippte.
In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs
wurde auch kein Chopin gespielt
ganz amusisches Gedankenleben
mein Vater war einmal im Theater gewesen
Anfang des Jahrhunderts
Wildenbruchs „Haubenlerche“
davon zehrten wir
das war alles.
Doch sind Bewohner dieser scheinbar altmodischen Bühnenwelt tatsächlich Vorfahren – oder immer noch Zeitgenossen? Den politisch überkorrekten Vertreter des Establishments, der genau weiß, was für die bedauernswerte Unterschicht gut ist und sie deshalb nicht zu fragen braucht, kennen wir aus dem 21. Jahrhundert und den egomanen Frauenversteher, der am Ende zur Gewalt greift, leider auch. Lene, ihre Mutter und ihr Geliebter Paul, die den widrigen Umständen, gegen die sie sich nie aufgelehnt haben, die Schuld am verpassten Lebensglück geben, könnten ebenfalls unsere Nachbarn sein. Und das gilt am Ende natürlich auch für Onkel Ale, der so lange unbeugsam und kompromisslos für die Rechte der Arbeiter eintritt, bis er die Chance wittert, „Kompanjong“ seines Dienstherrn zu werden.
Staatsdichter im zeitweiligen Widerstand
Ernst von Wildenbruch wurde am 3. Februar 1845 in Beirut geboren. Während des Jurastudiums schrieb er erste Gelegenheitstexte, 1874 durfte er Wilhelm I. sein Heldengedicht „Vionville“ vortragen. Von 1877 bis 1900 arbeitete er im Auswärtigen Amt, zuletzt trug er den Titel eines Geheimen Legationsrates. Als er am 15. Januar 1909 in Berlin starb, war Wildenbruch einer der erfolgreichsten Dramatiker des Deutschen Kaiserreichs, doch ein Volksdichter wurde er nie. An seinen zumeist historischen, dem hohen Ton und klassischen Zuschnitt verpflichteten Werken schieden sich die Geister. Während der Kollege Conrad Ferdinand Meyer behauptete, sich „sozusagen physisch wohl“ zu fühlen, lästerte Theodor Fontane über den „armen Stümper“, der nicht nur die Kunst, sondern auch den gesunden Menschenverstand auf den Kopf stelle.
Auch in den führenden Kreisen des wilhelminischen Deutschlands war Ernst von Wildenbruch trotz seiner kaisertreuen, nationalkonservativen Einstellung nicht unumstritten. So wurden seine Dramen „Der Generalfeldoberst“ und „Der Junge von Hennersdorf“ wegen der unfreundlichen Darstellung von Mitgliedern des europäischen Hochadels verboten. Trotzdem votierte Kaiser Wilhelm II. dafür, Wildenbruch 1896 mit dem renommierten Schiller-Preis auszuzeichnen – und sei es nur, um eine Ehrung des Naturalisten Gerhart Hauptmann zu verhindern.
Der Streit um den vermeintlichen Staatsdichter, der den Karolingern und den Quitzows ein Denkmal setzte, sich aber immer wieder genötigt fühlte, die eigene Position zu bestimmen und zu rechtfertigen, war letztlich in Person und Werk begründet. Wildenbruch sah sich selbst als Anwalt eines Preußentums, dessen Herrschaftsanspruch er historisch verankern und für die Zukunft sichern wollte. In Werken wie der monumentalen Doppel-Tragödie „Heinrich und Heinrichs Geschlecht“ schilderte er aber auch den Kampf um soziale Gerechtigkeit, die Schattenseiten autoritärer Systeme und die Fadenscheinigkeit religiöser Heilsversprechen. Rettung, wenigstens aber eine Erklärung, erwartete Wildenbruch augenscheinlich nur von der Kunst.