Spiele mit Grenzen

Der Komponist und Musikschriftsteller Karl Borromäus von Miltitz beschrieb sie als „Fingerübungen mit Geist“, eine Definition, die für die Etüde auch rund 200 Jahre später noch gilt. Der junge japanische Pianist Wataru Hisasue widmet sich auf seinem Debütalbum für das Label Genuin den sieben Etüden, die Pascal Dusapin zwischen 1998 und 2001 komponierte.

Auch der Franzose hält grundsätzlich an der Idee fest, eine kleine musikalische Formel zu entwickeln und dem Lernenden die Möglichkeit zu geben, seine Fähigkeiten zu erweitern. Allerdings richten sich Dusapins Übungseinheiten nicht an den durchschnittlichen Klavierschüler. Fortgeschrittene Meisterschaft ist wohl notwendig, um durch das Geflecht der Farben und Formen zu finden und melodische Linien zu oszillierenden Flächen gerinnen zu lassen.

Eine weitere Herausforderung für den Solisten besteht im schroffen Gegensatz zwischen den beinahe lyrischen, nach Gedankengängen tastenden „Intermezzi“, die von virtuosen, zu abenteuerlichen Klanggeflechten verdichteten „Scherzi“ unterbrochen werden. Betrachtet man das Werk in seiner Gesamtheit, ergibt sich gleichwohl ein geschlossener musikalischer Kosmos, dessen innere Logik nie durchkreuzt wird. Der düstere Grundton, der sämtliche Etüden durchzieht, verebbt nach 50 Minuten in einigen zufällig wirkenden Gesten, die im Nichts verschwinden.

Das freie Spiel folgt Regeln und entspricht damit der Charakterisierung, die der niederländische Kulturanthropologe Johan Huizinga Ende der 1930er Jahre zu Papier brachte.

Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘.
Johan Huizinga: Homo ludens

Wataru Hisasue wird einige Zeit darüber nachgedacht haben, wie die sieben Etüden darzustellen sind, erzeugt am Ende aber genau die eigenartig meditative, ja hypnotische Wirkung, die Pascal Dusapin vorgeschwebt haben dürfte. Dabei gelingt ihm nicht nur eine technisch eindrucksvolle Umsetzung, sondern auch das Kunststück, die Leerstellen der scheinbaren Rat- und Orientierungslosigkeit, die immer wieder aufbrechen, nicht zu überbrücken, sondern auszuhalten.

Als „Zugabe“ und beziehungsreiche Reminiszenz an die Etüden enthält das Album auch die Weltersteinspielung von Pascal Dusapins Klavierstück „Did it again“ von 2016, das Wataru Hisasue ein Jahr später im Rahmen des ARD-Musikwettbewerbs zur Aufführung brachte. Für seine eindrucksvolle Interpretation wurde er seinerzeit mit einem Sonderpreis ausgezeichnet.

Pascal Dusapin: Etüden für Klavier Nr.1-7 und Piano Works Nr. 1 „Did it again“, Genuin