Stockflecken der Seele

Aufgelesen (18): Heimito von Doderers Roman „Ein Mord den jeder begeht“.

Die junge Louison, Spross der einflussreichen Familie Veik, wird Opfer eines brutalen Raubmordes. Jahre später sieht ihr Schwager ein Bild der Verstorbenen. Einer Laune, einem drängenden Gefühl, schließlich einer Obsession folgend, übernimmt Conrad Castiletz die Aufgabe, an der alle Justizorgane gescheitert sind. Beim Versuch, den Mord aufzuklären, entdeckt er viel mehr als er gesucht hat.

Der erste Satz der „Strudlhofstiege“ (1951) schlägt einen Bogen um den gesamten Roman und bündelt das opulente Werk wie in einem Brennglas. Einen ähnlich weitreichenden Auftakt erprobt Heimito von Doderer bereits in „Ein Mord den jeder begeht“ (1938), der mit elf nachdenkenswerten Worten beginnt.

Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer.

Auch Conrad Castiletz stülpt nicht selbst, sondern empfängt die entscheidende Prägung seines Lebens von der „blümeranten“ Mutter, die immer „nur irgendwo dabei“ sitzt und dem cholerischen Vater, der „plötzliche Stürze ins Schwarz“ erleidet – und seine Familie mit in die unheimlichen Tiefen reißt.

Auch dieser Sohn soll es einmal besser haben. Conrad wird deshalb ein ordnungsgemäßes, gutbürgerliches Leben vorgezeichnet und der gehorsame Zögling denkt nicht einmal an Widerspruch. Im Gegenteil. Er fürchtet die Bedrohung des einmal erreichten Status quo. Aus dem ewigen Grundgefühl, dass „irgendwo irgendwas doch nicht in Ordnung“ sein könnte, bilden sich „Stockflecken der Seele“, die selbstbestimmte und sinnerfüllte Entscheidungen blockieren.

So rasten die Sätze 2 und 3 dieses Romans in ihren Vorgänger, der jedem die Kindheit über den Kopf gestülpt hat wie einen Eimer.

Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.

Conrad Castiletz braucht mehrere hundert Seiten, um die simple Mechanik der ersten drei Sätze aus eigenem Erleben nachvollziehen zu können. Dann erst versteht der Hobbydetektiv, dass seine aufwändige Ermittlungsarbeit weniger der Aufklärung eines Verbrechens als einer fundamentalen Erkenntnis dient: Eine Dummheit kann ein Leben zerstören, sie kann aber auch die Essenz eines Lebens ausmachen, das sich substanzlos und fremdbestimmt um die Fetische der bürgerlichen Gesellschaft dreht.

Herrenrunden

Obwohl Louison Veik in diesem Roman eine posthume Hauptrolle spielt und weitere Frauen Conrads Lebenswegs kreuzen, sind die Stellpulte, die über seine Richtung bestimmen, ausschließlich von Männern besetzt. Der abstürzende Erzeuger, die jovialen Chefs, der bedächtige Schwiegervater bewegen Conrad wie eine Modelleisenbahn, während die Fabrikantenrunde in Berlin – ein „Aquarium mit fetten, nicht sehr munteren Fischen, die meistens träge gründelten“ – und der Freundeskreis des Regierungsrats Hohenlocher mindestens versuchen, den hoffnungsvollen Nachwuchs von ihrer Nah- und Fernsicht zu überzeugen.

Frauen werden nur noch als Dekoration oder zu Vergnügungszwecken gebraucht, während geistige Trägheit, Egoismus und absolute Skrupellosigkeit zu einer schwer verträglichen Mischung verklumpen. Doderer schildert diese Herrenrunden mit phantasievoller Boshaftigkeit.

Über einen Teil der Ottomane – wo das Tischchen mit den Getränken stand – erstreckte sich der Doktor Velten, lässig da und dorthin verteilt, während der Baurat in mehr kugelig-hämsterlicher Art gesammelt in sich selber ruhte.

Der erwähnte Baurat stellt gern historische Schlachten nach und führt genauestens Buch über 62.500 Zinnsoldaten, die ihm zu diesem Zwecke zu Gebote stehen. Was mag Heimito von Doderer, der sich ab 1933 als begeisterter Anhänger des Nationalsozialismus und überzeugter Antisemit präsentierte hatte, durch den Kopf gegangen sein, als er all diese aufrechten Deutschen in Szene setzte? Eine innere Distanz ist spürbar, doch die Entfremdung geht nicht so weit, eine Brücke zwischen der erzählten Zeit der „Goldenen“ Zwanziger und der Entstehungszeit des Romans zu schlagen. Sein zwielichtiges Verhältnis zum dunkelsten Kapitel der deutschen und österreichischen Geschichte rinnt fortan an Doderer herunter – trotz Wechsels der Kleider und Kostüme.

Ein gelber Tankwagen und der Geruch nach Lack

„Ein Mord den jeder begeht“ wimmelt von Leitmotiven wie eine Wagner-Oper. In der Realität und in Traumwelten begegnet Conrad feuchten Molchen, den Ringen des Lebens, einem mattsilbrigen Heizkörper und einem Gasometer, dem Bleistift des Vaters, verschiedenen Varianten eines Vorzimmers, einem Glas, das vom Tisch zu fallen droht, einem mitunter lebensgefährlichen gelben Tankwagen und – immer und immer wieder – Zügen, die durch Stadt und Land, Tunnel und Straßen fahren und in denen nicht nur sein Leben eine entscheidende Wendung nimmt.

So unterschiedlich die Symbole und Metaphern auch sein mögen, haben sie doch System, indem sie Stationen der Selbstfindung markieren und Erkenntnisprozesse begleiten. Gegen Ende seiner Reise begreift Conrad, dass die permanente Bewegung nur eine Illusion ist. Er fährt eigentlich gar nicht U-Bahn. Sondern sitzt und wartet, bis ihm wieder eine Tafel hingehalten wird.

Leer, unanschaulich fielen die durcheilten Strecken zwischen je zwei Stationen in die Finsternis, ins rollende Nichts. Man fuhr eigentlich nicht. Man wartete. Man saß in diesem hellerleuchteten Kasten, der ebenso gut auf der Stelle hätte rollen und rütteln können und an dessen Fenstern die gleichbleibende, aus der festen in die flüssige Form übergegangene Wand vorbeivibrierte. Die Zurücklegung eines Weges manifestierte sich sozusagen nur abstrakt, indem bei jedem Halten etwas anderes auf den Tafeln stand.

 


Hinweis: Oft sind die Werke, die wir in der Reihe „Aufgelesen“ vorstellen, nicht mehr im Buchhandel erhältlich. In diesem Fall schon. Heimito von Doderers Roman „Ein Mord den jeder begeht“ liegt sogar als Hardcover- (C.H. Beck, 24 €) und als Taschenbuchausgabe (dtv, 13 €) vor.