Die Prager Musikszene gehörte zu den produktivsten in ganz Europa – bis ihre Vertreter von den Nationalsozialisten unterdrückt, vertrieben oder ermordet wurden. Hans Winterberg überlebte den Holocaust, doch erst 2021 begann die Edition seines kompositorischen Nachlasses. Ein Jahr später liegt nun die erste CD mit Orchesterwerken und dem 1. Klavierkonzert vor.
„Hätte man Winterberg nicht entdeckt, gäbe es nach der katastrophalen Mordorgie durch die Nazi-Besatzung an tschechischen Musikerinnen und Musikern außer Martinů keinen bedeutenden Überlebenden jener Generation“, meint Michael Haas, Mitarbeiter des Exilarte Zentrums der mdw-Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.
Tatsächlich steht der 1901 in Prag geborene Komponist, der 1991 im oberbayerischen Stepperg verstarb, relativ autark in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Winterberg war ein Bewunderer Arnold Schönbergs, baute selbst aber nicht auf serielle Techniken. Er verband impressionistische Elemente mit einer aggressiven Rhythmik und steigerte seine vielschichtigen Kaskaden mal ins Monumentale, mal ins Tänzerische und Groteske.
Er habe einen „Weg polyrhythmischer und polytonaler Prägung gefunden“, beschrieb Winterberg sein Kompositionsverfahren, das in der 1966/67 entstandenen „Rhytmophonie“ einen besonders faszinierenden Ausdruck findet. Das gut 30minütige Werk zeichnet in den explosiven Ecksätzen gewaltige, sich permanent verändernde und überladende Klanggemälde, während der Mittelteil im Zentrum des Sturms ganz andere Töne anschlägt. Am stillsten sei es nicht etwa dann, wenn man nichts höre, sondern wenn man ETWAS höre, glaubte der von Winterberg hier zitierte Philosoph Günther Anders. Dem entspricht die minimalistische Hörlandschaft, die der Komponist entlang suggestiver Klangwirkungen entstehen lässt.
Johannes Kalitzke und das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin sind passionierte Anwälte dieser kaum je gehörten Musik. Mitreißend bewältigen sie den Parforceritt durch extreme Dissonanzen und die permanenten Tempoänderungen und Stimmungswechsel der „Rhytmophonie“, aber auch die kleine, kantige, energiegeladene „Sinfonia drammatica“ (1936) ist bei ihnen in besten Händen.
Das 1. Klavierkonzert, dessen anspruchsvoller Solopart von Jonathan Powell mit Tempo und Tiefgang gespielt wird, fungiert als sinnstiftendes Bindeglied. Versammelt das gerade einmal 15minütige Werk doch bereits alle wesentlichen Teile des Winterbergschen Kosmos.
Hans Winterberg: Sinfonia drammatica; Piano Concerto No.1; Rhythmophonie, Capriccio