Symphonische Überspannung

Der Komponist Wilhelm Furtwängler steht bis heute im Schatten des weltberühmten Dirigenten. Trotzdem finden seine Werke in jeder Generation neue Anhänger, die sich um den Nachweis bemühen, dass die Musikgeschichte in diesem Fall Entscheidendes übersehen hat. Das jüngste Plädoyer hält Fawzi Haimor am Pult der Württembergischen Philharmonie Reutlingen.

Dass sich Furtwängler selbst in erster Linie als Komponist betrachtet hat, scheinen viele seiner Äußerungen zu belegen. Glauben muss man ihnen freilich ebenso wenig wie den Erklärungen, die er für seine zwielichtige Rolle im Dritten Reich parat hatte. „Ich konnte Deutschland in seiner tiefsten Not nicht verlassen“, gab Furtwängler vor der Berliner Entnazifizierungskommission zu Protokoll – in der festen Überzeugung, damit alles Entscheidende gesagt und erklärt zu haben.

Während die politische Selbsteinschätzung immer wieder bestritten wurde, wanderte die künstlerische nahezu unbeschadet durch die Jahrzehnte. Immer wieder gibt es Versuche, Furtwänglers Werke, so ausufernd und sperrig sie auch sind, für das Repertoire zu gewinnen.

Die 1. Symphonie, die zwischen 1938 und 1941 entstand und am äußersten Rand der Spätromantik einen monströsen Kampf gegen das Verschwinden derselben führt, ist ein besonders undankbares Objekt. Denn obwohl die vier Sätze mit klassischen Grundmustern und Nachklängen aus der Welt Anton Bruckners aufwarten, verliert sich der Hörer immer wieder in Furtwänglers labyrinthischen Tonfolgen. Nach 90 Minuten bleibt das Gefühl einer vielfachen Überspannung und die Frage, ob hier nicht ein Kosmos um einen leeren Kern kreist.

Wenn das so ist, kreist er allerdings auf beträchtlichem Niveau. Die Darbietung der Württembergischen Philharmonie Reutlingen ist über die Gesamtdistanz sehr differenziert, immer leidenschaftlich und insgesamt hochgradig bemerkenswert. Fawzi Haimor, von 2017 bis 2020 Chefdirigent des Orchesters, verliert nie den Blick für die Gesamtproportionen und kontrolliert auch die Details des Geschehens bis zum letzten der 820 Takte, in die sich allein das Finale gliedert.

Damit gelingt ihm übrigens deutlich mehr als dem legendären Kollegen. Furtwängler probte seine 1. Symphonie im Jahr 1943, war mit dem Ergebnis aber so unzufrieden, dass es zu seinen Lebzeiten nicht mehr zu einer Aufführung kam.

Wilhelm Furtwängler: Symphony Nr.1 h-moll, cpo