Terror ohne Gesicht

Aufgelesen (16): Georg Kaisers Schauspiel „Die Lederköpfe“.

Seit Jahren belagert Diktator Basileus eine Stadt. Ohne Erfolg und nun weigert sich das letzte Aufgebot seiner Krieger, für ihn in die aussichtslose Schlacht zu ziehen. Das Ende des Diktators wäre besiegelt, doch dann bringt sein Feldhauptmann Basileus ein beispielloses Opfer.

Der Soldat verstümmelt sein Gesicht und behauptet in der belagerten Stadt, sein Herrscher habe ihn auf so bestialische Weise bestraft. Als er das Vertrauen der Eingeschlossenen gewonnen hat, öffnet er die Tore für Basileus´ Truppen. Der Feldhauptmann, der sein Gesicht fortan mit einer Ledermaske bedeckt, soll zur Belohnung Basileus´ Tochter heiraten. Die aber weigert sich zunächst, den Befehlen des Vaters zu gehorchen.

Die Tochter des Basileus:
Ich fürchte mich nur vor dieser Kappe, die weder schrecklich noch schön ist – die nichts ist als ein lederner Beutel, der jedermann aufgestülpt wird, um niemand zu sein.

Dass jedermann niemand ist (außer ihm selbst, versteht sich), gefällt Basileus dagegen ungemein. Er befiehlt dem Feldhauptmann am Tage seiner Hochzeit auch die Deserteure zu verstümmeln, um eine willfährige Armee von gleichgeschalteten Lederköpfen zu schaffen.

Der Basileus:
Verlöscht ist das Gesicht. Warum soll es sich zeigen? Will ich euch kennen? Erhebt ihr Anspruch auf Bezeichnung? Ihr sollt euch selbst nicht kennen. (…) Ich will Lederköpfe schaffen nach deinem Vorbild, Feldhauptmann, der mir als Lederkopf am besten diente – ein Volk von Lederköpfen ist bei dir versammelt, die ich in meine Kriege schickte, die verwüsten, wo Menschen mit Gesichtern übrig sind.

Doch der Widerstand, den die Krieger am Beginn des Stückes probten, trägt jetzt Früchte. Der Feldhauptmann weigert sich, dass Sinnbild der totalen Unterwerfung zu vervielfältigen. Basileus sticht ihn nieder und wird selbst von den Deserteuren erschlagen. Seine Tochter bricht mit den Kriegsgefangenen auf, um in der Wüste eine neue Stadt zu bauen.

Düstere Zukunftsvision

Ob eine auf Herodot basierende Fabel aus vorantiken Zeiten in besonderer Weise geeignet ist, um die „Gesichtslosigkeit der SA“ (O-Ton Kaiser) zu veranschaulichen, ist nachdrücklich bezweifelt worden. Dass ihr Autor sich auch Ende der 20er Jahre noch auf sein dramatisches Gespür verlassen konnte, duldet trotzdem keinen Zweifel. Sechs Personen reichen Georg Kaiser, um eine düstere Zukunftsvision aufs Papier und von dort auf die Bühne zu werfen. Sie besticht durch pointierte Szenen und scharfkantige Figuren, die über sich hinausdeuten – vor allem aber durch eine forcierte, schlackenlose Sprache, die auf die Erkenntnis gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge zielt.

Vieles in diesem Stück ist holzschnittartig, gewiss, doch die Schrecken einer Diktatur, die es auf totale Entmenschlichung abgesehen hat, sind keineswegs übertrieben. Gut vier Jahre nach der Uraufführung der „Lederköpfe“ im November 1928 war ganz Deutschland bewusst, wie nah Georg Kaiser an der Realität entlanggeschrieben hatte. Gleichwohl bleibt dieses Schauspiel nicht in seiner Zeit stecken. Die Terrorherrschaft des Basileus kommt ohne jeden ideologischen Überbau aus – und ist insofern leicht übertragbar. Dies könnte einer von mehreren Ausgangspunkten für eine Wiederbelebung der „Lederköpfe“ sein, doch Kaisers Bühnenwerke sind längst keine Kassenschlager mehr.

Zeitlos und unzeitgemäß

Die hellsichtige Kritik an den Auswüchsen des Kapitalismus, welche die „Gas“-Trilogie (1917-20) prägt, müsste uns ähnlich nahe gehen wie die Angst vor der Deformierung durch die Mehrheitsgesellschaft, die in „Von morgens bis mitternachts“ (1912) thematisiert wird, die Solidaritätsoffensive der „Bürger von Calais“ (1912-13) oder der Respekt vor dem nie aufgebenden, wahrhaft guten Menschen, mit dem sogar „Die Lederköpfe“ enden.

Doch seit das expressionistische Laboratorium geschlossen wurde, ist uns Kaiser fremd geworden. Zu blutleer, pathetisch und verkopft erscheinen uns all die namenlosen Kassierer, Milliardäre, Töchter, Frauen, Herren und die durchnummerierten Blau- und Gelbfiguren 1 bis 7 ohnehin. Allerdings fließt die Literatur- und Theatergeschichte nicht immer nur in eine Richtung. Außerdem hat der erfolgreichste Bühnenautor des Expressionismus in seinem mitunter beunruhigenden Schaffensdrang rund 70 Theaterstücke hinterlassen.