Tohus auf Hiddensee

Im Alter von neun Jahren betritt Constanze Cosmann 1974 zum ersten Mal die Ostseeinsel Hiddensee. Bisher kannte sie diese märchenhafte Traumwelt vor der Westküste Rügens lediglich aus den Erzählungen ihres Vaters. Es ist Liebe auf den ersten Blick, die sich heute eindrücklich in ihren Bildern wiederfindet. Die Suche nach der besonderen Ausstrahlung der Insel führt die Autorin weit zurück in die Geschichte ihrer eigenen Familie.

Insel und Familie sind seit Generationen auf das Engste mit einander verbunden. Schuld daran ist ihre Urgroßmutter Elisabeth von Blücher (1879-1956). Sie verliebt sich bei ihrem ersten Besuch im Jahre 1910 in die Insel Hiddensee, den Gegenentwurf zu den ebenfalls um die Jahrhundertwende boomenden prunkvollen Kaiserbädern auf Usedom und Rügen. Die ruhige, beschauliche und von zahlreichen Künstlern und Wissenschaftlern besuchte Insel wird für die Urgroßmutter zur Kraftquelle, die ihr über den frühen Verlust ihres Mannes (1914) hinweghilft. 1915 entschließt sie sich zum Kauf einer Fischerkate im kleinen Ort Vitte. Für sie als Frau zur damaligen Zeit ein äußerst mutiger Schritt. Rasch freundet sie sich sowohl mit den einheimischen Fischern als auch den jedes Jahr zur Sommerfrische anreisenden Künstlern an. So ist sie eng mit der Malerin Anna Muthesius und dem dänischen Stummfilmstar Asta Nielsen befreundet, die dort ebenfalls über eigene Häuser verfügen.

Die mutige Urgroßmutter Elisabeth von Blücher

Ihr „Efeuhaus“ lässt die Urgroßmutter nach und nach ausbauen. Zwei Ferienzimmer im Obergeschoss tragen zum finanziellen Unterhalt bei. Außerdem beherbergt sie regelmäßig Freunde und Familienmitglieder bei sich in Vitte. Das Haus wird zu einem Kraftzentrum der Familie, einem Ort der Geborgenheit und der Begegnung – es wird ein „Tohus“ (Zuhause) für die ganze Familie. Der Vater der Autorin, Joachim Klug (geb. 1927), verbringt und genießt hier einen Großteil seiner Kindheit. Doch auch wenn die Abgeschiedenheit Hiddensees die Auswirkungen des politischen Weltgeschehens nur in gedämpfter Form an Land lässt, bleiben Schicksalsschläge nicht aus. 1939 stirbt die zehnjährige Schwester Joachim Klugs durch einen Arztfehler, der Vater Joachims verletzt sich bei einem Autounfall schwer und Nazideutschland zettelt den 2.Weltkrieg an.

Dies hat auch gravierende Folgen für die Insel und ihre Menschen. So bleiben die jüdischen Künstler der Insel nach und nach fern, weil sie von den Nazis verfolgt, vertrieben oder ermordet werden. Für den Großteil der Familie, d.h. Frauen und Kinder, wird ihr Tohus auf Hiddensee ab 1943 zum Fluchtort vor den Bombenangriffen auf Deutschland. Im April 1945 flieht die Familie dann jedoch vor den nahenden russischen Truppen von der Insel in Richtung Westen.

Das Efeu-Haus

Das Tohus der Familie droht in der Folge hinter dem Eisernen Vorhang zu verschwinden. Noch einmal ist es die Urgroßmutter, die mit ihrem Mut den Fortbestand des familiären Ankers auf Hiddensee sichern kann. Durch ihren Besuch 1946 beim Inselbürgermeister gelingt es ihr, die drohende Enteignung zu verhindern. Sie hat den Bürgermeister in der Hand. War er es doch, der sie vor Jahren in angetrunkenem Zustand mit dem Fahrrad so schwer verletzte, dass lange unsicher war, ob sie jemals wieder würde laufen können. Darüber hatte die Urgroßmutter geschwiegen – bis sie dem einst unbestraft davon gekommenen Täter wieder gegenüber sitzt. Das „Efeuhaus“ bleibt auch in der DDR im Besitz der Familie.

1956 stirbt die Urgroßmutter, das von ihr geschaffene Kraftzentrum der Familie aber bleibt – bis heute. Und seit 1974 kommt die heutige Werbekauffrau, Entspannungstherapeutin, Schriftstellerin und Künstlerin Constanze Cosmann (geb. Klug) regelmäßig auf ihre Insel. Sie steht dabei nicht nur in der Tradition ihrer mutigen Urgroßmutter sondern auch der sogenannten „Malweiber“, die um die Jahrhundertwende entgegen männlicher Anfeindungen ihren Weg als Künstlerinnen auf der Insel Hiddensee gingen.

Mit ihrer Familiengeschichte ist Constanze Cosmann nicht nur ein einfühlsames Familienepos sondern auch ein äußerst lesenswertes Plädoyer für die Bedeutung eines Zuhauses gelungen. In ihren Bildern hat sie zudem den ganz besonderen Charakter Hiddensees eingefangen: „Mich faszinieren die unvergleichliche Landschaft, der unglaublich variantenreiche Himmel und die ganz besonderen Lichtstimmungen Hiddensees“. Einige ihrer Bilder illustrieren das äußerst lesenswerte, liebevoll gestaltete Buch.

Constanze Cosmann. TOHUS. Eine Familiengeschichte auf der Insel Hiddensee. Engelsdorfer Verlag, 19,80 €
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