Steigende Einwohnerzahlen bei stagnierender Siedlungsfläche bescherten den von Mauern umgebenen Städten des Mittelalters eine ständig wachsende Brandgefahr. Außer Kontrolle geratenes offenes Feuer zum Kochen, Heizen und Beleuchten ließ so manche Siedlung in Flammen aufgehen. Brandschutz war also überlebenswichtig. Allein die Türmer hatten den nötigen Überblick, um drohende Feuersbrünste frühzeitig zu erkennen und davor zu warnen.
Im heutigen Rückblick wird dieser harte Job vielfach romantisch verklärt. Die gemütlichen Turmstuben entpuppen sich bei genauerem Hinsehen viel mehr als durch Wind, Wetter und Feuchtigkeit beeinträchtigte, beengte und unkomfortable Verschläge. Erkältungskrankheiten, Gicht, Rheuma und Lungenentzündungen galten als typische Türmerkrankheiten, schreibt Ulrich Metzner in seinem Buch über „Nachtwächter und Türmer damals und heute“. Endete die Krankheit mit dem Tod des Türmers folgte ihm mitunter seine Witwe in diesem Job nach. In der Regel, bis ein Sohn die Nachfolge antreten konnte. Immerhin hing an dem Job auch die Dienstwohnung in zumeist luftiger Höhe.
Die Aufgaben der Türmer auf Kirch-, Schloss-, Rathaus- oder sonstigen Stadttürmen waren recht vielfältig. Mit Glockenschlägen und Signalhörnern sowie roten Fahnen (tagsüber) und Laternen (nachts) warnten sie die Stadtbewohner vor drohenden Bränden. In manchen Fällen waren sie aber auch für die Zeitansage mit einem Signalhorn verantwortlich. Eine wirkungsvolle Wärmequelle war ihnen auf den Türmen wegen der herrschenden Brandgefahr zumeist verwehrt. So soll denn beispielsweise in Osnabrück ein Türmer in einem besonders strengen Winter auf dem Turm erfroren sein – trotz des von der Stadt zur Verfügung gestellten Dienstschaffells.
Doch auch die rechtzeitige Warnung vor drohenden feindlichen Angriffen gehörte zu ihren Aufgaben. Von einem ganz besonderen Vorfall weiß Johannes Thier, Zunftmeister der 1987 im dänischen Ebeltoft gegründeten „Europäischen Nachtwächter- und Türmerzunft“, zu berichten. Vom Turm der Marienkathedrale schmetterte der Türmer 1241 sein Trompetensignal (Hejnat) über die Dächer Krakaus, um vor dem drohenden Angriff der Tataren zu warnen. Die Stadttore konnten rechtzeitig geschlossen werden. Den Türmer traf jedoch ein Tatarenpfeil noch bevor er das Signal beenden konnte. „Der Turm ist auch heute noch 24/7 mit einem Türmer besetzt. Jede volle Stunde erklingt die Trompetenmelodie. Das abrupte Ende erinnert an den tödlichen Tatarenpfeil,“ erzählt Thier.
Türmer im 21. Jahrhundert
Krakau ist einer von 20 in der Mitgliedsliste seiner Zunft gelisteten Türmerorten. 15 davon befinden sich innerhalb Deutschlands. Auch wenn es in manchen dieser Städte aktuell keine Türmer gibt, habe die Zunft entschieden, sie weiterhin als Mitgliedsort zu führen. Lediglich auf dem Kirchturm von Sankt Annen im sächsischen Annaberg-Buchholz wohne noch eine Türmerfamilie, die Familie Melzer.
„Ich habe als Türmer keine Anstellung und versehe meinen Dienst als Türmer ehrenamtlich. Meine Frau ist als Türmerin beim Turmförderverein angestellt,“ erklärt Matthias Melzer. Zu seinen Aufgaben, die er ehrenamtlich versieht, gehöre das Läuten der Glocken etwa 400mal im Jahr zu allen Veranstaltungen der Kirchgemeinde. Weitere Aufgaben sind die Reinigung und Pflege des gesamten Turmes, Pflege der Glocken und der Turmuhr. Der Jahreszeit entsprechende Gestaltung der Ausstellungen im Turm sowie die Betreuung der Touristen während der Öffnungszeiten des Turmes und Führungen von Gruppen außerhalb der Öffnungszeiten.
Die Mehrzahl der Türmer ist heute unterwegs, um interessierten Besuchern die Tradition der Türmer näherzubringen und das Wissen von diesem einst so wichtigen Beruf vor dem Verschwinden zu bewahren. Dabei würden nebenbei auch noch andere Aufgaben erfüllt. So kümmere sich der Türmer auf dem Daniel in Nördlingen auch um die Wetteraufzeichnungen für den Deutschen Wetterdienst, ergänzt Johannes Thier.
Märchenfee und Süntelgeist
Auch wenn sich die Aufgaben der verbliebenen Türmer offensichtlich verändert haben, sieht Thier sie doch als ernsthafte Bewahrer und Aufklärer mit historischer Expertise. Voraussetzung für die Zunftmitgliedschaft sei der historische Beleg, dass in dem Ort oder der Stadt früher Türmer und/oder Nachtwächter tatsächlich existiert hätten. Der Dienstherr des Türmers (Kirchengemeinde, Bürgermeister, Magistrat – entscheidend ist: wem gehört der Turm!) müsse einen Aufnahmewunsch bei der Zunft einreichen. Die Unterlagen, insbesondere die historische Begründung werde dann sorgfältig geprüft. „Wenn wir eine Mitgliedschaft als realistisch erachten, erfolgt eine Visitation durch den Zunftmeister sowie eine Einladung zum anstehenden Zunfttreffen. Dort muss der Türmer (oder Nachtwächter) sich dann vorstellen und eine Kostprobe seines Könnens abliefern (Singen, Hornblasen). Danach kann er persönliches Mitglied werden,“ erklärt Thier das ambitionierte Aufnahmeverfahren.
Nicht ganz so streng hat die 2004 in Bad Münder gegründete „Deutsche Gilde der Nachtwächter, Türmer und Figuren e.V.“ ihre Aufnahmebedingungen formuliert. „In der Gilde haben wir keine Ordnung oder Hierarchie unter den dargestellten Figuren. Die Mehrzahl der Kollegen sind Nachtwächter, es gibt einige Türmer und auch Figuren wie die Märchenfee, die weiße Frau oder den Süntelgeist,“ beschreibt Marcus Hellmann, Schatzmeister und Regionalsprecher Region Nord-West, die rund 200 Mitglieder der Gilde.
Erfolgreiche Traditionspflege gelingt aber auch ohne die Mitgliedschaft in einem der Verbände. Gefragt, warum sie keine Interessenvertretung beigetreten sei, antwortet Martje Salje, seit 2014 Türmerin im westfälischen Münster, dass dies nicht zu ihrer Tätigkeit als städtische Angestellte passen würde. „Es handelt sich um eine halbe Stelle im Öffentlichen Dienst beim Amt Münster Marketing. Das Büro ist auf der katholischen Stadt- und Marktkirche, damit ist es eine einzigartige Arbeitssituation,“ erläutert Salje.
300 Stufen führen sie an ihren nächtlichen Arbeitsplatz auf St.Lamberti. „Mit jeder Stufe entferne ich mich mehr vom Alltag ´da unten´ und bekomme automatisch den oftmals so begehrten Blick der Draufsicht, alles ordnet sich neu, es ist ein echter Gamechanger,“ beschreibt sie ihren Weg zur Arbeit. Der Start des ersten Friedenssignals ist um 21.00 Uhr, jede halbe und jede volle Stunde gibt es ein Signal, das letzte ertönt um Mitternacht. Täglich außer Dienstag, denn statistisch gesehen ist der Dienstag im Laufe der Aufzeichnungen der sicherste und friedlichste Tag in Münster, deshalb haben Türmer hier traditionell ihren freien Tag.
„Die Glut am Glühen halten“
Dort wo die Tradition unterbrochen wird und keine Nachfolger gesucht (oder gefunden) werden, droht die Tradition der Türmer rasch auszusterben. Das es auch anders geht, beweist Münster. Hier wurde die Traditionspflege äußerst erfolgreich mit zeitgemäßem Stadtmarketing verknüpft. „Die Türmerin ist ein Stück gelebte Münster Tradition – dass dieser altehrwürdige Beruf erstmals von einer jungen Musikerin ausgeübt wird, passt wunderbar zur Stadt, mit ihrer faszinierenden Mischung aus Alt und Jung,“ beschreibt Juliane Unkelbach vom Münster Marketing die große Bedeutung der Türmerin für die Stadt.
Die Türmerin Martje Salje ist längst zu einer Institution Münsters geworden, die sich, auch wenn ihr Aufgabenspektrum stark von dem der früheren männlichen Kollegen abweicht, der über 600 Jahre währenden Tradition ihres Berufs verpflichtet fühlt: „Das Tuten der Friedenssignale ist ein kleiner, aber relevanter Teil des Selbstverständnisses der Stadt Münster als Friedensstadt. Türmer auf St. Lamberti im Dienst der Stadt Münster sind hier seit 1383 dokumentiert. In Krisenzeiten wie in Friedenszeiten ist diese Aufgabe zeitlos ein ideales Symbol für Kontinuität, für Tradition und Moderne, die hier an vielen Stellen Hand in Hand gehen. Das möchte ich wie meine vielen Vorgänger weiter pflegen und bewahren.“
Ihr Arbeitsplatz über den Dächern Münsters ist für Besucher allerdings tabu. Zwischen dem Tuten der Friedens- oder Alarmsignale genießt und nutzt sie die Ruhe, um Anfragen zu beantworten und zu historischen Themen rund um Lamberti zu recherchieren. Einen kleinen Einblick in ihr Reich gewährt sie aber trotzdem, auf ihrem offiziellen Blog ➤ „Türmerin von Münster“.
Weitere ausführliche Einblicke in das Leben der Türmer bietet das „Erste Deutsche Türmermuseum Vilseck“ in der Nähe Nürnbergs. Das Spezialmuseum zur Geschichte der Türmer wurde im Jahr 2000 in einem historischen Stadttorturm eingerichtet. Die Stadt Vilseck wollte damit der langen Türmertradition in Vilseck und in der ganzen Oberpfalz ein Denkmal setzen. Im Museum werden Alltagsleben und Kultur insbesondere der Oberpfälzer Türmer lebendig. Sie spielten in ihrer Doppelfunktion als Wächter und Musiker vom 15. bis ins 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle. Viele waren für die Musik im Ort verantwortlich, manche komponierten eigene Musikstücke.
Dieser Tradition fühlt sich auch die Europäische Nachtwächter- und Türmerzunft verpflichtet. Wir müssen „die Glut am Glühen halten“, immerhin sei der Türmer über viele Jahrhunderte eine für die Städte überlebenswichtige und deshalb unverzichtbare Person gewesen. „Diese frühere Funktion der Türmer sollen die heutigen Türmer ihren Gästen kommunizieren. Dabei sind die Möglichkeiten der Kommunikation vielfältig und können auch durchaus über soziale Medien verbreitet werden. Die Zunft hat keine Scheu vor modernen Formen der Kommunikation,“ versichert Johannes Thier.
Weitere Quellen und Informationen Ulrich Metzner, Nachtwächter und Türmer damals und heute, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2017 / Europäische Nachtwächter- und Türmerzunft ➤ Homepage / Deutsche Gilde der Nachtwächter, Türmer und Figuren e.V. ➤ Homepage / Erstes Deutsches Türmermuseum Vilseck ➤ Homepage