Ungültig, aber großartig

1869 komponierte Anton Bruckner ein Werk, dem er später den Zugang zum Kanon seiner neun Symphonien verwehrte. Vernichten mochte er die vier Sätze aber auch nicht – so wurde die „Zweite“ zur „Nullten“.

„Ungiltig“, „ganz nichtig“ und „annulirt“ sollte sie sein und damit ihn niemand in der Hofbibliothek oder andern fachkundigen Orts falsch verstehen konnte, dekorierte Bruckner seine d-moll-Symphonie sogar mit dem Tilgungszeichen „Ø“.

Vielleicht war das alles nur „fishing for compliments“, denn eine der wenigen plausiblen Gründe, die ungeliebte Partitur dem Hofkapellmeister Otto Dessoff vorzulegen, konnte eigentlich nur darin bestehen, eine baldige Aufführung oder wenigstens positive Begutachtung zu erwirken. Wenn es ein Wink mit dem Zaunpfahl war, verstand Dessoff denselben nicht oder ignorierte ihn mit voller Absicht. Seine boshafte Frage „Ja, wo ist denn das Thema?“, trug wohl entscheidend dazu bei, das Schicksal des Werkes zu besiegeln. Viele weitere Faktoren sind denkbar, grundsätzlich möglich, aber Spekulation. Feststeht, dass Anton Bruckner die „Nullte“ annullierte. Erst 1924, zum 100. Geburtstag des Komponisten, erlebte das Werk seine Uraufführung.

Wenn 2024 die Gesamtaufnahme aller Bruckner-Sinfonien in sämtlichen überlieferten Versionen vorliegen wird, ist die „Nullte“ ganz selbstverständlich dabei – und das auch noch in einer herausragenden Interpretation. Markus Poschner und das Bruckner Orchester Linz nähern sich ihr nicht aus der Perspektive der monumentalen Spätwerke, sondern mit den mutmaßlichen Klangvorstellungen der später 1860er Jahre, in denen Beethoven und Schubert noch eine bedeutende Rolle spielten.

Gleichwohl demonstriert Poschners energiegeladene und feinnervige Darbietung, dass sämtliche Charakteristika des symphonischen Phänomens Anton Bruckner hier bereits vollständig versammelt sind: Wuchtiges Blech und beschwörende Choräle kennzeichnen auch das vergleichsweise frühe Werk – ebenso wie lyrische Ausflüge mit Holzbläsern und Streichern, ein turbulent forciertes Scherzo oder das auftrumpfende Finale.

Dass Bruckner für den Dirigenten „eine Art Absprungpunkt in eine andere Welt“ ist, beweist diese Aufnahme eindrucksvoll. Sie zeigt darüber hinaus, dass man von Nummer Null ebenso gut starten kann wie von den Plätzen 1 bis 9.

Anton Bruckner: Bruckner 2024 „The Complete Versions Edition“ – Symphonie Nr.0 d-moll WAB 100, Capriccio