Unruhige Herzen

1920 begann mit der Wiederentdeckung der „Rodelinda“ die beispiellose Renaissance der Opern Georg Friedrich Händels. Gut 100 Jahre später stand die Geschichte der Langobardenkönigin, die sich gegen Lügen und Intrigen, aber auch gegen den Sog der Verzweiflung und Selbstaufgabe behaupten muss, erneut auf dem Spielplan der Internationalen Händel Festspiele Göttingen. Der Live-Mitschnitt dokumentiert ein seltenes musikalisches Ereignis.

Mit der historischen Rodelinda, die Ende des 7. Jahrhunderts in die Machtkämpfe des Langobardenreichs verwickelt wurde, hat die Opernfigur wenig zu tun. Händel und sein Librettist Nicola Francesco Haym lösen die Königin, ihren vermeintlich toten Gemahl Bertarido, dessen intrigante, aber reumütige Schwester Eduige, den von Selbstzweifeln geplagten Ursurpator Grimoaldo und seinen böswilligen Einflüsterer Garibaldo sowie den treuherzigen Edelmann Unulfo aus allen geschichtlichen Zusammenhängen.

Die Oper erzählt stattdessen von persönlichen Befindlichkeiten, Beziehungskonflikten und Familiendramen. Im Dickicht widerstreitender Emotionen und Ansprüche, immer neuer Täuschungsmanöver und aufwendigen Selbstbetrugs geht die Übersicht zunehmend verloren. Nicht allein Grimoaldo spürt im 3. Akt nur noch sein „unruhiges Herz“. Doch ob es von Misstrauen, Liebe, Hoffnung, Furcht, Ruhmsucht oder gar der Sorge um das okkupierte Land verfolgt wird, vermag er nicht mehr zu sagen. Die hypernervöse Arie „Tra sospetti“ versucht die Schwankungen zwischen dem Willen zur Macht und der Sehnsucht nach Frieden noch einmal auszupendeln. Ohne wirklichen Erfolg.

Vor emotionalen Abstürzen ist auch Rodelinda nicht gefeit. Doch weil sie trotz aller Zweifel den destruktiven Einflüsterungen widersteht, ihre innere Haltung wahrt und dem Leben vertraut, wird sie am Ende mit der zumindest vorläufigen Lösung aller Konflikte belohnt. Wie es nach dem „lieto fine“ mit der von Vertrauensbrüchen belasteten Ehe von Rodelinda und Bertarido oder dem problembelasteten Paar Grimoaldo/Eduige weitergeht, werden wir nie erfahren.

Schade eigentlich, denn auch nach fast dreieinhalb Stunden mag man sich kaum von diesem Live-Mitschnitt trennen, der coronabedingt nicht im eigentlichen Jubiläumsjahr, sondern am 9. September 2021 entstand. Die Produktion basiert auf der Uraufführungsfassung von 1725, die um einige der ein Jahr später veröffentlichten „Additional Songs“ ergänzt wurde. Das FestspielOrchester Göttingen begeistert unter der Leitung des großartigen Laurence Cummings durch absolute Präzision und ein federndes, beeindruckend homogenes Klangbild. Anna Dennis widmet Rodelinda ein stimmlich brillantes und psychologisch ausgefeiltes Rollenporträt, aber auch die fünf weiteren Partien sind mit Christopher Lowrey (Bertarido), Thomas Cooley (Grimoaldo), Franziska Gottwald (Eduige), Julien Van Mellaerts (Garibaldo) und Owen Willetts (Unulfo) hochkarätig besetzt.

Georg Friedrich Händel: Rodelinda, 3 CDs, Accent