Mitten in der Corona-Pandemie lädt die Berliner Staatsoper Unter den Linden zur Neuinszenierung einer wahrhaft toxischen Geschichte ein. Das unschuldigste Mitglied einer Gesellschaft wird zum Opfer ihrer destruktiven Kräfte. Erst dann bekommt die wahre Liebe eine Chance.
Wenn es in „Jenůfa“ nur um die Doppelmoral einer kleinbürgerlichen Gesellschaft ginge, wäre die Oper trotz Leoš Janáceks überwältigender Musik wohl seltener auf den nationalen und internationalen Bühnen zu sehen. Aber die Frage, wie weit Menschen gehen, um den Regeln und Normen ihres sozialen Umfelds zu entsprechen, beschäftigt auch das 21. Jahrhundert.
Insofern ist die Küsterin Buryjovka, die das uneheliche Kind ihrer Stieftochter ermordet, um Jenufa, aber auch sich selbst wieder in die vorgezeichneten Bahnen zu bringen, keine Figur einer vergangenen Epoche. Sondern eine Zeitgenossin, die uns Selbst- und Weltoptimierern die Qual des Irrtums, der Schuld und des Scheiterns vorführt.
Evelyn Herlitzius verkörpert die Küsterin mit dem ganzen Reichtum ihrer stimmlichen und darstellerischen Möglichkeiten und sticht aus dem Ensemble doch nur geringfügig heraus. Denn auch die zwischen Hoffnung, Verzweiflung und Panik hin- und hergeworfene Jenůfa, der mal tumbe, mal hysterische, mal warmherzige Laka und der zwischen Gewissensbissen und Gefühlkälte schwankende Števa sind mit Camilla Nylund, Stuart Skelton und Ladislav Elgr absolut hochkarätig besetzt.
Der junge italienische Regisseur Damiano Michieletto, der das Eis als „Metapher der Schuld“ naheliegenderweise ins Zentrum seiner Inszenierung stellt, setzt das Geschehen solide ins Bild. Doch die bohrenden Fragen stellen die Sänger und die coronabedingt leicht ausgedünnte Staatskapelle Berlin, die unter der Leitung von Simon Rattle zum Motor dieser Produktion wird.
Mit harten Akkorden und exakt modellierten Rhythmen schneidet diese „Jenůfa“ tiefer und tiefer. Bis das Eis gebrochen und der Leichnam geborgen ist – und der emphatische, alle Konflikte versöhnende Schluss den Betrachtern die verstörende Frage aufdrängt, ob Versöhnung und Neuanfang nach dieser Katastrophe möglich sind.
Leoš Janácek: Jenůfa, Staatsoper Unter den Linden, Premiere am 13. Februar 2021. Bis zum 15. März 2021 ist die Produktion noch in der 3sat Mediathek zu sehen.