Verbraucht bis zum letzten Rest

Aufgelesen (20): Gerhart Hauptmanns Schauspiel „Dorothea Angermann“.

Als sich Gerhart Hauptmann Mitte der 1920er Jahre seiner naturalistischen Anfangsjahre erinnerte, stieß er vielfach auf Ablehnung und Unverständnis. Die Geschichte einer Pastorentochter, die ungewollt schwanger wird und an der Hartherzigkeit ihrer Umwelt zerbricht, sei nun doch aus der Zeit gefallen, meinten namhafte Kritiker. Mit der Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft hatte der Autor allerdings längst abgerechnet. In „Dorothea Angermann“ ging es ihm vornehmlich um die Machtverteilung in menschlichen Beziehungen.

Dass sich eine junge Frau aus ordentlichem Hause mit dem Küchenchef eines Gasthofes einlässt, sollte in diesem Schauspiel keine große Sache mehr sein. Prahlt doch ihr eigener Vater mit der Liste früherer Eroberungen, während der Kaufmann Hubert Pfannschmidt seit Jahren an einer hartnäckigen Geschlechtskrankheit laboriert.
Doch was sich die Männer ganz selbstverständlich gestatten, ist ihren Frauen und Töchtern noch längst nicht erlaubt. Er habe dem „ganzem Weibervolke gegenüber die patriarchalische häusliche Zucht nicht ausgeübt“, klagt Pastor Angermann, dem die Bedrohung seiner Autorität deutlich mehr Sorgen macht als die „Entehrung“ der Tochter und ein möglicher Skandal.

Um die Machtverhältnisse wieder geradezurücken, zwingt er Dorothea in eine Ehe mit dem Erzeuger ihres Kindes. Zusammen sollen sie ihr Glück in Amerika versuchen. In Connecticut macht der Mann genau dort weiter, wo der Vater aufgehört hat. Innerhalb kurzer Zeit verliert Dorothea nicht nur ihr Kind, sondern auch jeglichen Halt und überdies den Glauben, dass sich ihr Schicksal noch einmal ändern könnte. Sie vergiftet ihren Mann, kehrt nach Europa zurück und stirbt, weil sie nichts mehr findet, für das sich zu leben lohnen könnte.

Wenn ich zum Beispiel nicht hustete und nicht auswürfe und alle meine Organe gesund wären und nicht das Gegenteil, ich könnte doch nicht mehr weiterleben. Irgendwie ist die Atmosphäre, sind die Bedingungen dieser Erde nicht mehr für mich. Es ist alles verbraucht bis zum letzten Rest, verbraucht, verbraucht, was sie für mich in petto hatte.

Solidarität und Unterdrückung

Trotz einiger Längen und dramaturgischer Schwächen ist „Dorothea Angermann“ nie ganz aus dem Blickfeld der Literaturwelt verschwunden. Verständlicherweise, denn auch ein Vierteljahrhundert nach seinen größten Erfolgen verstand es Hauptmann, das Publikum in seinen Bann zu ziehen – und das nicht nur mit dem, was sich auf der Bühne ereignete. Gerade dieses Schauspiel lebt von den Vorstellungen der Leser oder Zuschauer, die nicht nur drei übereinander liegende Flachdächer imaginieren müssen, dessen oberstes Schauplatz erotischer Zusammenkünfte wird. Ungezeigt bleiben außerdem die langen, quälenden Fahrten auf dem Atlantik, der Tod des Kindes, Prostitution, Alkohol- und Drogenexzesse oder der Mord an einem skrupellosen Ehemann.

Eine Vorstellung – wenn man so will: eine Vision – ist auch die mindestens angedeutete Möglichkeit der weiblichen Opposition gegen das gewalttätige, entwürdigende Geschehen. Sowohl ihre Stiefmutter Cläre als auch die Kaufmannsfrau Leonore stellen sich hinter Dorothea und versuchen, sie gegen die ständigen Anwürfe und Verleumdungen zu verteidigen. Der mit großen Plänen ausgewanderte Hubert, der auf ganzer Linie gescheitert ist, wird ebenfalls zu einem Schicksalsgenossen, der nicht helfen kann, aber immerhin zu trösten vermag.

Das Gros seiner Geschlechtsgenossen versagt dagegen auf ganzer Linie: Angermann als Vater und Seelsorger, Mario Malloneck als Ehemann, der Wechselfälscher, Hobby-Imker und Kunsthistoriker Dr. Weiß als stiller Verehrer und ganz besonders der verstockte Germanist Herbert Pfannenschmidt, den seine Schwärmerei für Dorothea nicht daran hindert, in schwierigen Situationen das Weite zu suchen. Wenn sich die Alleingelassene am Ende fühlt, als habe sie eine Kraft gepackt und „wie einen toten, empfindungslosen Gegenstand gegen einen Felsen geworfen“, dann hat das wesentlich mit den Männern zu tun, die sie formen wollten, ohne nach ihren eigenen Bedürfnissen zu fragen. Die Katastrophen, welche die Überlebenden ratlos zurücklassen, sind also keine moralischen. Sondern rein menschliche.

Kein Fall für die Leinwand?

Hauptmanns Schauspiel wurde am 26. November 1926 in der Regie von Max Reinhardt im Wiener Theater in der Josefstadt uraufgeführt. 1959 adaptierte Robert Siodmak den Stoff für die Kinoleinwand. Das Drehbuch schrieb Herbert Reinecker, der später mit Vorlagen für Krimiserien wie „Der Alte“ oder „Derrick“ bekannt werden sollte.

Aus Hauptmanns Theaterstück entwickelte Reinecker eine Gerichtsverhandlung, die mit einem Freispruch wegen offensichtlicher Notwehr endete. Dem etwas hilflosen Finale gehen gut 100 Minuten voraus,  die sich nicht wesentlich von anderen 50er Jahre-Schmonzetten unterscheiden. Dabei hätte die Verlegung der Handlung in die unmittelbare Gegenwart in vieler Hinsicht interessant werden können. „Fad und matt“, befand der „Spiegel“ seinerzeit und ließ sich nicht einmal von der prominenten Hauptdarstellerin aufmuntern. „Ruth Leuwerik (…) vermag in der Titelrolle nicht das mutterlose, schon minderjährig schwer geprüfte Pfarrerstöchterlein zu sein; wo Sinnlichkeit nottäte, ist sie allenfalls vage frühreif.“