Verstörendes in Moll

Alle großen Sinfoniker durchkreuzten irgendwann die Erwartungen ihres Publikums. So auch Ralph Vaughan Williams, der nach drei programmatischen Werken plötzlich auf Beinamen wie „Sea“, „London“ oder „Pastoral“ verzichtete und aggressive Dissonanzen aufeinanderprallen ließ.

Worum es denn in seiner 4. Sinfonie gehe, soll der Komponist seinerzeit gefragt worden sein. „Um f-Moll“, lautete die Antwort, doch das war nur ein Teil der Wahrheit. Unüberhörbar verarbeitete Vaughan Williams in diesen vier spannungsgeladenen Sätzen seine Erfahrungen als Soldat im Ersten Weltkrieg, aber auch die Befürchtung vor einem neuen, möglicherweise noch größeren Zivilisationsbruch, der sich im Jahr der Uraufführung (1935) bereits abzeichnete.

Wut, Verzweiflung und tiefe Trauer kennzeichnen auch die 6. Sinfonie (1948), die zu Beginn wiederum mit f-Moll spielt, in Gänze aber auf einem resignativen e-Moll fußt. Ein Programm wies der Komponist auch in diesem Fall weit von sich. Der zersplitterte Tanzrhythmus des einleitenden Allegro, die schmerzhaften Akkordfolgen des Moderato, der bizarre Marsch, den ein Tenorsaxophon im Scherzo anführt oder die trost- und leblose Ödnis des letzten Satzes, bedurften drei Jahre nach Kriegsende aber wohl auch keiner genaueren Erläuterung.

Pultlegende Sir Colin Davis fühlte sich vor allem von der 4. Sinfonie geradezu bombardiert und Sir Antonio Pappano raubte ihre „verstörende Kühnheit“ schon als Hörer den Atem. Seine Live-Aufnahmen mit dem leidenschaftlich, ja hingebungsvoll musizierenden London Symphony Orchestra erzeugen diese Effekte erneut – und das nicht nur durch die Konfrontation wuchtiger Klangmassen. Was sich in den Sinfonien langsam, stockend, mitunter an der Grenze des Hörbaren ereignet, klingt – wenigstens in Pappanos Interpretation – nicht wirklich nach Erlösung.

Aus dieser bedingungslosen Konsequenz entsteht eine ebenso großartige wie herausfordernde Einspielung außergewöhnlicher Werke.

Ralph Vaughan Williams: Symphonies Nos 4 & 6, LSO Live