Ob Kurt Tucholsky ein früher Anhänger des „Nature Writing“ war, lassen wir einmal dahingestellt sein. Tatsächlich dachte der berühmte Schriftsteller schon vor rund 100 Jahren darüber nach, wie man über Blätter schreiben könnte. Denn das ist gar nicht so einfach …
Ich werde ins Grab sinken, ohne zu wissen, was die Birkenblätter tun. Ich weiß es, aber ich kann es nicht sagen. Der Wind weht durch die jungen Birken; ihre Blätter zittern so schnell, hin und her, dass sie . . . was? Flirren? Nein, auf ihnen flirrt das Licht; man kann vielleicht allenfalls sagen: die Blätter flimmern . . . aber es ist nicht das. Es ist eine nervöse Bewegung, aber was ist es? Wie sagt man das?
Dies schrieb Kurt Tucholsky im September 1929 in der „Weltbühne“ in seinem Text „Mir fehlt ein Wort“. Beim Schreiben ist es wichtig, das möglichst genaue Wort zu finden – hierin liegt ja auch ein Teil der Kunst des Schreibens. Wenn jemand einen Text liest und dann sagt: „Ja, genau so ist es!“, dann haben wir unsere Arbeit gut gemacht.
Ob unsere Figur geht, schlendert, spaziert, marschiert, hastet oder schleicht, macht einen Unterschied. Nicht notwendigerweise in der Geschwindigkeit, mit der sich unsere Figur fortbewegt, aber in der Intention. Über das passende Wort lässt sich ein Plus an Information transportieren, das dem Text möglicherweise eine weitere Ebene gibt, dem Lesenden tiefere Einblicke gewährt oder auch der Figur eine weitere Dimension ermöglicht.
Intentionen und Geräusche
Mit dem passenden Wort und dem entsprechenden Kontext können wir noch mehr erreichen: Eine Figur, die durch ein Haus schleicht, eine Figur, die im Kaufhaus marschiert – leicht lassen sich so Verhaltensweisen zeigen, Spannungsbögen aufbauen, da sich Intentionen von Figuren mitteilen lassen, ohne sie explizit zu benennen.
Bei Figuren – egal ob diese in unserer Story, Menschen, Tiere oder andere handelnde Subjekte sind – können wir also ein Handeln mit einer bestimmten Intention anlegen. Wie aber ist das bei den von Tucholsky erwähnten Birkenblättern? Blätter eines Baumes, zumal wenn sie vom Wind bewegt werden – also passiv zu der Bewegung veranlasst werden – haben erstmal keine Intention.
Je nach Windstärke, Anzahl, Art und Stabilität können die Blätter eines Baumes aber verschiedene Geräusche erzeugen: Sie können beispielsweise rascheln, schlagen, rauschen, knistern oder sausen. Damit hätten wir erst einmal reine Beschreibungen des Geräusches. Hier können wir auch das Mittel der Onomatopoesie (Lautmalerei: das Nachahmen von Geräuschen durch die Wörter, Wörter werden von dem Klang eines Geräusches abgeleitet) nutzen. Rascheln hat durch das „dunkle“ a eine andere Wirkung als das „helle“ i in knistern. Blätter können aber auch säuseln, singen oder flüstern. Natürlich tun sie das nicht wirklich, aber wir können diese Bedeutung mit hinein legen, was sich anbietet, wenn wir das Geräusch der Blätter in unserem Text nutzen wollen, um eine Stimmung zu beschreiben.
Mit Worten Bilder erzeugen
Wir können das Geräusch von Blättern (wie auch andere Geräusche) außerdem nutzen, um Bilder zu erzeugen, die im Gesamtzusammenhang unseres Textes eine Wirkung erzielen, dem Text eine weitere Ebene geben: Das unheilvolle Rascheln der Blätter, das sanfte Flüstern der Blätter in der Morgensonne, das beruhigende Flirren der Blätter im lauen Abendwind.
„Der laue Wind, der sachte durch die Blätter strich und sie ein leises Lied von Weite singen ließ“. Hier nutzen wir das Mittel der Personifikation, in dem wir den Blättern die eher menschliche Fähigkeit zuschreiben, ein Lied zu singen. „Das lauter werdende, wilde Rauschen der Blätter klang wie ein sich nähernder Wasserfall.“ Hier nutzen wir die Figur eines Vergleiches um dem Geräusch der Blätter eine Stimmung der Gefahr zu geben.
Wenn Sie gerade keinen Baum in der Nähe haben, können Sie hier (➤ Link auf das Video „The Wind in the Trees“ ) stellvertretend zehn ganze Stunden (!) das Rauschen von Blättern hören und versuchen, die unterschiedlichen Varianten erst wahrzunehmen und dann zu beschreiben. Besser ist natürlich rauszugehen und echte Bäume zu finden. Denn darum geht es im Nature Writing: Sich selbst in der Begegnung mit der Natur zu erleben und die Essenz dieses Dialogs auf das Papier oder in die Tastatur zu bringen!
Versuchen wir es doch mal!
Schreiben Sie einen Textanfang, indem Sie die Stimmung der Geschichte durch die Geräusche von Blättern ausdrücken. Es muss nicht so plakativ sein wie der Anfang eines Horrorfilms, in dem die Figur durch den Wald hastet und Blätter peitschen, Äste brechen und Bäume fallen. Denn am besten wirkt diese Technik, wenn der Leser sie auf den ersten Blick gar nicht bemerkt.
Ihren Blätter-Versuch können Sie mir natürlich gerne schicken: redaktion@kulturabdruck.de