Auf einmal sind sie da. Fliegende Schildkröten, Killerhasen, fantastische Fabelwesen und andere Kuriositäten illustrieren ab Ende des 13.Jahrhunderts viele der in Frankreich, Flandern und England entstehenden Handschriften. Ein häufig wiederkehrendes Motiv sind Ritter, die gegen überdimensionierte Schnecken kämpfen. Über die Frage nach den damit einhergehenden Absichten der Illustratoren zerbrechen sich Historiker bis heute den Kopf.
Lange Zeit war die Illustration von Handschriften allein aus wirtschaftlichen Gründen kein Thema. Die Seiten wurden vielmehr komplett beschrieben, denn sowohl das Material als auch die Herstellung waren aufwendig und teuer. „Für das Pergament eines einzigen Buches benötigte man eine ganze Schafherde“, erklärt augenzwinkernd Prof. Dr. Christoph Mauntel, Professor für die Geschichte des Mittelalters an der Universität Osnabrück, im Gespräch mit „Kulturabdruck“. Da war einfach kein Platz für bunte Bilder.
Mit Ende des 13. Jahrhunderts wächst die Zahl der zunächst in Frankreich, Flandern und England produzierten teuren Handschriften, in denen nicht nur aufwendig gestaltete Initialen, sondern auch Bilder erscheinen. Dabei handelt es sich zunächst um Blumen(ranken)-Motive. Dies scheint so manchem Vertreter des wohlhabenden Hochadels zu gefallen. Und so werden die Illustrationen immer bunter und vielfältiger – und derartige Handschriften zu begehrten Luxusartikeln. Auftraggeber sind reiche Fürsten, Grafen und Könige. Für viele Vertreter des Hochadels werden diese Handschriften zum Statussymbol. Bei den Texten handelt es sich um historische Chroniken (z.B. Geschichte Frankreichs), Traktate zur Militärkunst und religiöse Texte (z.B. Bibel). Der Großteil der Menschen im Mittelalter bekommt diese Werke zeitlebens gar nicht zu Gesicht.
Zunächst bringt ein Schreiber den Text zu Pergament. Die von ihm frei gelassenen Flächen und Ränder werden dann im nächsten Schritt von einem Illustratoren (der wohl in aller Regel nicht des Lesens kundig war) mit bunten Bildern gefüllt. Einen Bezug zum Text haben sie jedoch in aller Regel nicht. In den Bildern präsentieren die Illustratoren vielmehr ein kurioses Sammelsurium an fantastischen Wesen und verrückten Verhältnissen. Im späten Mittelalter entwickelt sich ein professioneller Buchmarkt, der zur Gründung von Werkstätten führt, um den ständig wachsenden Bedarf an Handschriften zu decken. „Es ist davon auszugehen, dass in diesen Werkstätten jeweils eine Art Musterbuch mit einem Motivinventar vorhanden war, aus dem sich die Illustratoren bedienen konnten“, vermutet Prof. Mauntel.
Die herrschende Ordnung wird zum Teil lustvoll auf den Kopf gestellt. Machtverhältnisse werden umgekehrt. Da machen Hasen Jagd auf Hunde – und Ritter kämpfen gegen riesige Schnecken. Verkehrte Welt! Immer aber zeichnen sich diese Konstellationen durch ein hohes Maß an Ambivalenz aus. Die in diesen bunten Motiven durchaus zu vermutenden kritischen und satirischen Komponenten stellen die Adressaten im Hochadel nicht bloß. Sie sind witzig und machen Spaß. Und so nimmt auch niemand Anstoß an dem Spott, der im Bild der mit Schnecken kämpfenden Ritter mitschwingt.
Was aber bewog die Illustratoren zu dieser verrückten Kampfanordnung? Max Emanuel Frick hat in seinem Mittelalter-Blog „Curiositas“ (https://curiositas-mittelalter.blogspot.com/) einige bisher bestehende Erklärungsversuche zusammengetragen. Ähneln Schnecken mit ihrem Haus, das sie vor Angriffen schützt, nicht den Rittern in ihrer Rüstung? „Der Spott liegt also möglicherweise darin, dass der Ritter blind jedes gepanzerte Lebewesen angreift – weil er in der gigantischen Schnecke einen gegnerischen Ritter erblickt. Der Kampf gegen die übergroße Schnecke könnte also die unreflektierte Kampfeslust der Ritter verspotten“, schreibt Frick. Vielleicht sollten um 1300 aber auch die italienischen Geldwechsler und Bankiers als Feiglinge verspottet werden. Galt die Schnecke im Mittelalter doch als ein Symbol der Feigheit.
„Schon im 13. Jahrhundert personifizierte sie – wie übrigens auch der Esel und die Schildkröte – die Trägheit, dann – wie der Hase – die Feigheit. Wohl ab dem 15. Jahrhundert wandelte sich ihre Bedeutung ins Positive: Die ihr Haus tragende Schnecke wird zum Zeichen der Zufriedenheit, der inneren Einkehr, Selbsterkenntnis, Klugheit und Vorsicht“, erklärt Christiane Schillig in der Zeitschrift „Monumente“ (Ausgabe 2/2005).
Am Ende bleibt ein wenig Ratlosigkeit hinsichtlich der tatsächlichen mittelalterlichen Bedeutung des Kampfes von Rittern gegen Schnecken. Schließlich stellt dies Motiv auch kein singuläres Phänomen dar, sondern war Bestandteil eines äußerst bunten, vielfältigen Kosmos ambivalenter Kuriositäten. Vieles ist denkbar, manche Erklärung kann stimmen, muss aber nicht. Die Frage wird nicht nur Wissenschaftler auch zukünftig beschäftigen.