Wie sieht ein Mörder aus?

Aufgelesen (25): Gerd Oelschlegels Hörspiel „Einer von sieben“.

Am 26. April 1945 verlassen sieben Wehrmachtssoldaten ein Feldlazarett in Oberösterreich. Eine Woche später geraten sechs von ihnen in amerikanische Gefangenschaft. Nur von Oberleutnant Wolfgang Schwedler fehlt jede Spur. 14 Jahre später will sein Bruder endlich herausfinden, was in den letzten Kriegstagen geschehen ist.

Die späte Ermittlung löst bei den ehemaligen Kameraden unterschiedliche Reaktionen aus. Der erfolgreiche Geschäftsmann Werner, Bankdirektor Fürbringer und der Barmixer Altmann schweigen, lügen, vertuschen und setzen bis zum letzten Moment alles daran, Schuld und Verantwortung möglichst weit von sich zu weisen.

Doch die Wahrheit kommt unaufhaltsam ans Licht. Fähnrich Steinhausen, der sich direkt aus der Kriegsgefangenschaft zur Fremdenlegion gemeldet und dort nach dem Eindruck seiner Frau „den Tod gesucht“ hat, konnte ein schreckliches Erlebnis offenbar nicht verwinden. Und der schwerkranke, vor dem finanziellen Ruin stehende Kohlenhändler Thomsen, dessen einziger Sohn im Krieg gefallen ist, hat nichts mehr zu verlieren. Von ihm erfährt Schwedler schließlich, dass ein unbekannter Offizier der Gruppe den Befehl gab, 22 Zwangsarbeiter, unter ihnen Frauen und Kinder, in einem Waldstück zu erschießen. Nun traut sich auch der Angestellte Simmel, dem vermissten Oberleutnant Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Schwedlers Bruder war der Einzige, der den Befehl verweigern wollte.

„Einer von sieben“ wurde am 23. Juni 1959 im Westdeutschen/Hessischen Rundfunk gesendet und kratzte noch einmal beträchtlich große Löcher in die Mauer des Schweigens, die das Wirtschaftswunder von der Nazizeit trennte. Dabei verzichtete Gerd Oelschlegel vollständig auf politische Belehrungen und moralische Zeigefinger. Er erzählte nicht mehr und nicht weniger als die Geschichte eines Verbrechens, gewährte tiefe und mehrdimensionale Einblicke in die Psyche der Täter und ihres Verfolgers und blieb in der sprachlichen Gestaltung immer klar, stringent und schnörkellos. Dem entsprach die akustisch-technische Inszenierung von Friedhelm Ortmann, der fast vollständig auf Effekte und Nebengeräusche verzichtete, mit schlichten Überblendungen von Szene zu Szene führte und ganz auf den Gang der Handlung, Oelschlegels wirkungsvollen Text und die einprägsamen Stimmen von Friedrich W. Bauschulte (Schwedler), Heinz Schimmelpfennig (Werner), Kaspar Brüninghaus (Thomsen) oder Claus Clausen (Fürbringer) setzte.

Die Schlusssequenz hinterlässt bis heute den stärksten Eindruck, denn sie zerstört in wenigen Sekunden die Möglichkeit, dass es am Ende nur um die Aufklärung eines furchtbaren, aber doch lange zurückliegenden Kriminalfalls geht. Der ehemalige Leutnant Werner, der sich zu Beginn des Hörspiels weniger Sorgen um seinen mit Spielzeugwaffen hantierenden Sohn als um die Blumen in seinem Vorgarten gemacht hat, bangt auch am Schluss nur um Begriffe und Fassaden.

Wir hatten einen Befehl … können Sie das nicht verstehen? Wir haben alle nur auf Befehl gehandelt! Keiner von uns ist ein Mörder! – Was wollen Sie jetzt tun? Keiner von uns ist ein Mörder? Sieht so ein Mörder aus?

Kein Zweifel, Werner wird immer tatenlos zuschauen, wenn namenlose Vorgesetzte der Mut zur Menschlichkeit attackieren. Und dann seine eigene Waffe auf die noch Schwächeren richten …

Theater, Rundfunk, Film und Fernsehen

Der 1926 in Leipzig geborene Gerd Oelschlegel gehörte zu den besonders vielseitigen Kulturschaffenden der Nachkriegszeit. Sein erster durchschlagender Erfolg war „Romeo und Julia in Berlin“, ein kontrastreiches Drama an der ‚Grenze zwischen Ost und West, das 1953 als Hörspiel gesendet und vier Jahre später als Schauspiel in Aachen, Bremen, Hamburg und Wiesbaden uraufgeführt wurde. Neben der Bühnenfassung, für die Oelschlegel gemeinsam mit Ingeborg Bachmann ebenfalls 1957 den Literaturpreis der Hansestadt Bremen erhielt, entstand noch eine Fernsehfassung unter der Regie von Hanns Korngiebel. Auch von anderen Werken, etwas dem hier vorgestellten Hörspiel „Einer von sieben“ gibt es Fassungen für unterschiedliche Medien.

In den späten 60er und 70er Jahren war Oelschlegel vor allem als Drehbuchautor und Regisseur aktiv. Seine Filme und Fernsehspiele, etwa „Zwei unter Millionen (1961), „Sonderurlaub“ (1963) oder „Die fünfte Kolonne: Besuch von drüben (1965), beschäftigten sich immer wieder mit den Auswirkungen der deutschen Teilung. Gerd Oelschlegel starb am 15. Juli 1998 in Herrsching am Ammersee.