Postindustrielle Landschaften prägen unsere Umgebung in Deutschland und weltweit. Wie Gedichte wie die von Esther Kinsky und Daniela Danz uns einen anderen Zugang zu ihnen geben können, untersucht dieser Text auf eine ganz persönliche Weise unter Einbeziehung eigener Erinnerungen an solche Umgebungen.
Das Zentrum meiner Kindheit war ein schwarzer Stein. Eine Wohnzimmertischplatte, um die sich wichtige Teile unseres Familienlebens abspielten. Unter anderem habe ich ihr meine erste Narbe zu verdanken. Nach der genauen Gesteinsart, aus dem diese Platte gemacht ist, habe ich bezeichnenderweise erst jetzt gefragt: Es ist ein Tonglimmerschiefer, ein Otta Phyllit aus Norwegen. Eingelegt in diesen Stein ist ein mysteriöses Wesen, eine spiralförmige Versteinerung, die mich an die Schnecken im Garten erinnerte, die aber aus einem zeitlich und räumlich weit entfernten Meer stammt.
Meer und Gestein – mir wird bewusst, wie eng diese beiden ursprünglichen Elemente zusammenhängen und wie eng sie mit meinem Leben verwoben sind. Denn auch meine Heimatstadt Beckum mit ihren großen Kalksteinbrüchen und Zementwerken ist dem Stein und dem Wasser eng verbunden.
Warum gerade über Steine schreiben?
Jetzt mag man sich fragen: Wer schreibt schon über Steine? Für die meisten gibt es wohl kaum ein langweiligeres Thema: Steine sind für sie farblos, leblos, irrelevant und ihnen fremder als alles andere in unserer Umwelt. Auch mir ist die persönliche Beziehung zu dieser Thematik erst spät aufgefangen – sie war sozusagen verschüttet. Entdeckt habe ich diese Erinnerungen erst zu einem Zeitpunkt, als das Verschwinden ihres Bezugspunkts – der Tischplatte, unserer Firma, der industriellen und postindustriellen Landschaft meiner Kindheit und Jugend – schon unaufhaltsam war.
Ermöglicht wurde diese Rückkehr zu meinen Erinnerungen durch literarische Texte über Steine, insbesondere durch die Lyrik, die meine Wahrnehmung diesbezüglich schärfen und so meine entsprechenden Erinnerungen, Assoziationen und Emotionen freilegen konnten. Esther Kinsky beschreibt diese heute mehr denn je notwendige Veränderung in der Wahrnehmung unserer Umgebung wie folgt:
Es geht bei diesem Blick […] um eine Form von Empathie für Gelände als Geschichts- und Geschichtenträger, um eine Hinwendung zur Oberfläche, die nie ohne Spuren ist, nie ohne Zeichen der Begebenheiten, eine Schrift des Historischen, die wir entziffern können. Die Wahrnehmung von Geschichte in jeder Faser der uns umgebenden Welt ist keine Frage des Wissens und abrufbarer Fakten, sondern ein nie endender Prozess der Vergegenwärtigung von Erinnerung, ein Prozess, der zum Verstehen aufstört.
Kinsky: Störungen, S.71
Bei meinem eigenen „Prozess der Vergegenwärtigung von Erinnerung“ haben Esther Kinskys Gedichtzyklen ‚Deep Time‘ und ‚Schrifttierchen‘ aus dem Band „schiefern“ und Daniela Danz‘ Gedicht ‚Stadt der Avantgarde‘ aus „Wildniß“ eine entscheidende Rolle gespielt. Kinsky setzt sich lyrisch mit den schottischen Slate Islands und der Geschichte des dortigen Schieferabbaus auseinander. Ihre poetisch genauen Beschreibungen haben für mich aus einem Gebrauchsobjekt einen Gegenstand der Natur gemacht, der voller Geschichte und Geschichten steckt:
Schiefer der metamorphit : […] bleibendes zeugnis nie abgeschlossener verwandlung, unbesänftigter erschütterung, ungelinderter versehrung, stets zur splitterung bereit : zur offenlegung seiner inneren unzugehörigkeiten.
Kinsky: schiefern, S.18
Unter diesem neuen Blickwinkel eröffnete der Schiefer unserer Tischplatte einen neuen Blickwinkel auf die Prozesse, welche die mich umgebende Landschaft, die Steine, aus denen sie unter anderem besteht, und auch mich selbst formten. Eine genaue und bewusst subjektive Textlektüre ermöglichte so eine „offenlegung“ meiner eigenen „inneren unzugehörigkeiten“.
Daniela Danz hingegen beschäftigt sich in ‚Die Stadt der Avantgarde‘ mit dem Kalibergbau in der russischen Stadt Beresniki. Wie beim Kalk ist auch die Entstehung des Kalis eng verknüpft mit dem Meer. Wasser und Stein verbinden also Beckum, die Slate Islands und Beresniki, verbinden meine Erinnerungen mit den Gedichten von Kinsky und Danz. Die Gedichte beinhalten Überlegungen zur menschlichen Erinnerung und ihrer Position in den für unsere Verhältnisse unermesslichen Spannen der Erdzeit; es geht in ihnen unter anderem um Abwesenheit und Abschied. Diese Texte ließen mich – auch und insbesondere dank ihrer emotionalen Auslotung unseres In-der-Welt-Seins – neu auf die Landschaften meiner Kindheit blicken und Fragen stellen, die mir früher nicht in den Sinn gekommen waren.
Sinnliche Wahrnehmung von Steinen
Gerade, weil Steine vielfach unbeachtet geblieben sind, kann eine Auseinandersetzung mit ihnen mit allen Sinnen einen wichtigen Weg zur Betrachtung der uns umgebenden Landschaft eröffnen. Das trifft im Besonderen auf die Art von Landschaft zu, die ich in meiner Kindheit erlebt habe: Sowohl das Gelände, auf dem das Fliesen-, Platten- und Mosaikgewerbe meiner Eltern angesiedelt war, als auch die Umgebung meiner Heimatstadt Beckum in Westfalen zeichnen sich durch eine industrielle und postindustrielle Prägung aus. In beiden Fällen ist das Industrielle eng verbunden mit den Steinen, der Bearbeitung von Fliesen und Naturstein, dem Abbau von Kalk und der Produktion von Zement. Insbesondere der letztere Prozess ging mit einem massiven menschlichen Eingriff in die Landschaft einher.
Unser Firmengelände in Beckum könnte als ein Industriegelände im Kleinen bezeichnet werden. Neben dem Wohnhaus gibt es ein Bürogebäude und eine Ausstellung, Lagerhallen für die Fliesen und den Naturstein sowie für die Gerätschaften zur Bearbeitung des Materials und die Autos für ihren Transport. Aufschüttungen von Sand und Kies werden unter Nutzung Beckumer Zements zur Herstellung von Mörtel genutzt. Die Aufmerksamkeit, die Daniela Danz in ‚Die Stadt der Avantgarde‘ immer wieder insbesondere den Geräuschen der Industrielandschaft widmet, ruft auch meine Erinnerung an Laute hervor, die mich umgeben haben. Danz machte mir deutlich, wie stark meine auditive Umgebung vor allem durch Lärmverschmutzung geprägt war, wenn sie über den Kalibergbau schreibt:
Was hört das Mädchen aus ihren Kopfhörern?
Die Geräusche, die wir gemacht haben
früher, als die Stadt noch jung war und voller Lärm
oder die Geräusche, die es hier gibt,
wenn es uns nicht mehr gibt?
Danz, S.76
In meiner Erinnerung exemplarisch für diesen Lärm ist das Geräusch der Fliesenschneidemaschine an einem Samstagmorgen. Auch wenn sie uns gestört hat, war sie Teil unseres Alltags und war so bis vor Kurzem eher im Unbewussten beheimatet. Und doch ist es bezeichnend, dass meine Geschwister und ich das Geräusch dieser Schneidemaschine noch heute ohne großes Nachdenken treffsicher nachahmen können.
Dass diese Arbeit aber nicht nur industrielle Lärmverschmutzung ist, geht mir erst jetzt auf. Sie ist auch Handarbeit, Präzisionsarbeit. Die Furchen im bearbeiteten Naturstein spiegeln sich wieder in den Furchen der Hand meines Vaters. Material und Mensch, scheinbar leblose Materie und lebendige Geste verbinden sich hier miteinander. Erst durch Kinskys Gedicht ‚Deep Time‘ konnte ich die besondere Bedeutung so einer Verbindung begreifen:
Wo bleibt die spur der fingerkuppe verzeichnet, das kurze tastende handanlegen an die furche, wo granit und schiefer einander begegnen […] wo bleibt da der abrieb der fingerkuppe, wo der einsichtige augenblick, wo der atem, der körperlos in die dem bloßen auge nicht sichtbaren abgründlein zwischen den beinah im rechten winkel zueinander geblätterten raumerfüllungen findet und dort bleibt?
Kinsky: schiefern, S.20
Wo bleibt die Spur der Fingerkuppe? Im bearbeiteten Naturstein ist sie eingeschrieben – in einem Prozess, der zwar verändernd, vielleicht auch invasiv, doch auch formend und schaffend ist. Aber die Wirkung ist auch umgekehrt: Der Stein hat sich auch in Hand und Herz meines Vaters eingeschrieben, der sich Zeit seines Lebens mit diesem besonderen Material beschäftigt hat, und das nicht nur ökonomisch oder mechanisch, sondern auch emotional und ästhetisch. In der Wechselwirkung zwischen Stein und Hand zeigen sich die Ambivalenzen der menschlichen Interaktion mit seiner Umwelt, die die Industrialisierung befördert hat. Mensch und Umwelt – was sich im Kleinen auf unserem Firmengelände und für mich emotional persönlich offenbart, ist natürlich nur Teil eines größeren Prozesses. Die Deindustrialisierung, die hier stattfindet, hat die uns umgebende Stadt schon längst ergriffen.
Diesem größeren Kontext mit dem Zementrevier Beckum als Beispiel werde ich unter fortgesetzter Zuhilfenahme der Gedichte im folgenden Aufsatz zu diesem Thema nachspüren. Der Beitrag erscheint hier auf www.kulturabdruck.de am 28. Mai 2024.