Zwischen Wald und Wohnwagen

Trotz ihrer überragenden musikalischen Qualitäten sind Nikolai Rimski-Korsakows Opern seltene Gäste auf den internationalen Opernbühnen. Doch hin und wieder tauchen sie aus der Versenkung auf und erinnern daran, dass sie viel zu lange nicht beachtet wurden.

2017 inszenierte der Rimski-Korsakow-erfahrene Dmitri Tcherniakov „Schneeflöckchen“ an der Opéra National de Paris. Das ätherische Zauberwesen aus Alexander Ostrowskis gleichnamigem Märchendrama sucht auch hier die Liebe, die gleichzeitig ihr Verderben bedeutet, weil ein unsichtbarer Sonnengott es so beschlossen hat.

Tcherniakov, der einmal mehr auch für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet, verwandelt das märchenhafte Dorf der Berendei in eine Aussteiger-Siedlung, in der naturverbundene Zeitgenossen einige Traditionen ihrer slawischen Vorfahren pflegen. Sie leben in Holzhütten (aber auch in Wohnwagen), suchen bei Bedarf mystische Naturschauplätze auf und zelebrieren am Ende – direkt neben Schneeflöckchens Leiche – eine Sonnenwendfeier für ihren mutmaßlichen Mörder.

Zuvor wird Schneeflöckchen nicht nur zwischen dem kunstsinnigen, weltabgewandten Lel und dem bodenständigen, bisweilen gewalttätigen Misgir hin- und hergerissen, sondern auch zwischen der übersinnlichen Welt der Eltern (Frühlingsfee/Väterchen Frost) und der am Ende doch bürgerlichen, weil stets ergebnisorientierten Dorfgemeinschaft. Ohne Halt und Hilfe schmilzt sie – zur Überraschung aller Beteiligten, welche dann wieder den Zuschauer verblüfft – dahin.

Auch wenn es am Ende wohl nicht Tcherniakovs inspirierteste Arbeit ist und während der dreistündigen Aufführung einige Leerstellen bleiben, findet der russische Regisseur wie immer unkonventionelle und absolut überzeugende szenische Lösungen, etwa für den Prolog, in dem die Frühlingsfee als exzentrische Kindergärtnerin und ihr Ex-Mann als sonorer Handlungsreisender auftreten, für die vielschichtigen Duette, welche die Kupawa mit dem Zar und mit Lel zelebriert oder für die zahlreichen, imposanten Chorszenen.

Musikalisch dominiert wird die Aufführung, die jetzt auf DVD und Blue-ray vorliegt, von der großartigen Aida Garifullina. Sie gibt der unbändigen Lebensfreude und der abgrundtiefen Verzweiflung der Hauptfigur Stimme und Gestalt und findet in „Schneeflöckchen“ eine neue Paraderolle. Überzeugende Porträts gelingen auch dem Countertenor Yuriy Mynenko (Lel), Maxim Paster (Zar Berendei) und Martina Serafin (Kupawa), während Thomas Johannes Mayer (Misgir) das Volumen seiner Partie nicht ganz auszufüllen vermag.

Orchestre et chœurs de l’Opéra national de Paris stellen sich der seltenen Aufgabe unter der Leitung von Chordirektor José Luis Basso und Dirigent Mikhail Tatarnikov mit großem Engagement und viel Liebe zum Teil.

Nikolai Rimski-Korsakow: Schneeflöckchen (The Snow Maiden / La fille de neige), DVD / Blue-ray, BelAir classiques