Als ein Teil der Düte Werse hieß

Ortsnamen erzählen Geschichte. Die in ihnen enthaltenen Bezeichnungen geben Auskunft über die Beschaffenheit der Landschaft zum Zeitpunkt der Namengebung, verweisen auf menschliches Siedeln, Kultivieren und Wirtschaften und verraten etwas über die verkehrsgeographischen oder sozialen und rechtlichen Gegebenheiten vergangener Zeiten. Oft haben diese Namen auch alte, heute nicht mehr gebräuchliche Personennamen konserviert. Weil die Wörter, mit denen die Siedlungsnamen gebildet wurden, häufig einer wesentlich älteren Sprachstufe angehören und heute fremd erscheinen, ist die Erklärung von Siedlungsnamen nicht immer einfach.

Hinzu kommt, dass sie sich im Laufe der Zeit durch sprachliche Prozesse wandeln können und somit ihre ursprüngliche Bedeutung in ihrer heutigen Form nicht mehr erkennbar ist. Deshalb ist die Suche nach den ältesten Belegen eines Siedlungsnamens unabdingbare Voraussetzung, wenn man seiner Bedeutung auf die Spur kommen möchte. Die Ergebnisse der Analyse von Siedlungsnamen sagen aber auch etwas über das Benennungsmotiv aus, warum also ein Ort seinen Namen trägt. Mit anderen Worten: Die Deutung eines Namens legt oftmals offen, was für die Menschen von einst wichtig war. Somit sind Namen eine aufschlussreiche kultur- und mentalitätsgeschichtliche Quelle.

Der Siedlungsname Wersen erscheint erstmals im 11. Jahrhundert in einem Einkünfteregister des Klosters Corvey (Rotulus Corbeiensis) in der Form Werisun. 1150 heißt die Siedlung Wersen, 1160 Wersene und 1271 und 1272 wieder Wersen. Es gilt also für die Analyse des Namens und seiner Bildungsweise, den ältesten Beleg stark zu machen: Werisun. Der Name erscheint damals wie viele Siedlungsbezeichnungen im Dativ Plural (Endung –un), der mit der Wendung ‚Siedlung an/bei etwas‘ wiedergeben werden muss. Nur an welcher topographischen Besonderheit siedelten damals die Bewohner Wersens? Was verbirgt sich hinter dem Stamm weris-?

Erklärungsversuche

Die Historikerin Brigitte Jahnke schreibt in der im Jahr 2000 erschienenen Schrift zum Orts- und Kirchenjubiläum:

Der erste Teil ‚weri‘ oder ‚Wer‘ verweist eindeutig auf die Lage des Ortes: ‚Wert, auch wierd, wörd, werder‘ bedeutet Flußinsel oder Uferland, der zweite Teil ‚-sun oder sen‘ geht auf das Wort ‚husen = Siedlung, Haus‘ zurück. Danach müsste die Bedeutung des Wortes [richtig: des Namens; C.S.] Wersen ‚Siedlung am Flussufer oder auf der Flussinsel‘ sein. Ein Platz in ähnlicher Lage war die mittelalterliche Burganlage tom Wert in Ibbenbüren, an die heute noch die Bezeichnung Werthmühle erinnert.

Diese Erklärung ist vielfach übernommen worden, unter anderem auf der offiziellen Homepage der Gemeinde Lotte („Ort am Fluss“) und auch im erstmals 2009 herausgegebenen „Archivführer des Kreises Steinfurt“. Wie die Analyse zeigen wird, ist im weitesten Sinne der Sache nach zufällig etwas Richtiges getroffen, allerdings offenbart die von Brigitte Jahnke beigebrachte Erklärung, dass sie in Fragen der Namenkunde philologisch nicht zuständig ist. So geht sie für die älteste Form Werisun von einer Zusammensetzung, einem Kompositum mit dem Grundwort –hûsen, dem in lokativischer Funktion gebrauchten Dativ Plural, aus. Doch ist der Anschluss der von ihr abgetrennten Lautgruppe sun, sen an das Wort altniederdeutsch hûsun, mittelniederdeutsch hûsen, den Dativ Plural zu altniederdeutsch, mittelniederdeutsch hûs ‚Haus‘, abzulehnen. Zwar verkürzt sich dieses Grundwort in Namen oftmals zu der inhaltslosen Endsilbe sun, sen, weil aufgrund der akzentuierten Erstsilbe des Bestimmungswortes das Grundwort in den Nebenton gerät, doch ist dieser Prozess gemeinhin noch nicht für das 11. Jahrhundert anzusetzen, sondern erst seit dem 13. Jahrhundert sind abgeschwächte und kontrahierte Formen überliefert.

Bei seiner ersten Nennung im 11. Jahrhundert hätte Werisun also noch mit dem vollen Grundwort als *Werihusun erscheinen müssen, wenn es sich wirklich um einen –hûsen-Namen handelte (mit einem * werden nicht belegte, sondern erschlossene Formen gekennzeichnet). Zudem wird in dem Corveyer Einkünfteverzeichnis, in dem auch Werisun verzeichnet ist, mehrere Male der Name Holthuson, einmal Hahuson sowie Grobberehuson und in dem Abschnitt (§ 38), in dem Werisun selbst vorkommt, Berchuson, Iggenhuson und Withuson genannt. Die –hûsen-Namen zur Zeit der Erstnennung Wersens sind also eindeutig noch nicht zu –sun, –sen verkürzt worden. Überhaupt ist die Verkürzung von –hûsun > –hûsen > –sun > –sen für das Tecklenburger Land wohl nicht festzustellen. Hier bleibt in den meisten Fällen das Grundwort –hûsen/-hausen in Siedlungsnamen erhalten. Somit ist Jahnkes Annahme eines zu –sun verkürzten Grundwortes –hûsen in Werisun eindeutig zurückzuweisen.

Auf jeden Fall von Jahnke falsch angeschlossen, ist auch das vermeintliche Bestimmungswort *weri an mittelniederdeutsch werder ‚Insel, jedes von Wasser umgebene Stück Land‘ und die von ihr angeführten dialektalen Varianten, da diese stets einen Dental aufweisen, der der von Jahnke erschlossenen Lautgruppe *weri eindeutig seit Beginn der Überlieferung fehlt. So kann auch nicht von einem Ausfall des Dentals (-d, –t) ausgegangen werden, da sich dieser erst in mittelniederdeutscher Zeit (ca. 1200–1650), allerdings nicht vor dem 14. Jahrhundert vollzieht. Damit ist die gesamte Erklärung des Namens von Jahnke hinfällig und der Name muss einer erneuten Analyse unterzogen werden.

Namen von Gewässern

Der Siedlungsname Wersen erinnert aufgrund seiner Lautung stark an den Gewässernamen Werse bei Münster. Erstmals nachweisbar ist der Gewässername im Siedlungsnamen Wersothorp (1022/1033), Mitte des 11. Jahrhunderts van Wersetharpa, van Uuersitharpa, zu altniederdeutsch thorp, mittelniederdeutsch dorp ‚Wohnstätte, Dorf, Siedlung‘, also ‚Dorf/Siedlung an der Werse‘ (Pfarrei Handorf / Münster). Mitte des 12. Jahrhunderts wird der Fluss als de Wersa bezeichnet. Bei dem Namen des Gewässers Werse handelt es sich um eine Bildung mit dem häufigen Gewässernamen-Suffix –s-, das über einen langen Zeitraum produktiv gewesen ist. So finden sich sowohl vor als auch nach Christi Geburt Gewässernamen, die mit diesem Suffix gebildet wurden (unselbständiges Wortbildungselement, Nachsilbe, Endsilbe. Vgl. gesundGesundheit mit dem Suffix –heit).

Zu ersten gehört die Ems, römerzeitlich Amissis, Amisia, zu indogermanisch *am– ‚Flussbett, Graben, Kanal’, an die das s-Suffix mit Bindevokal –isi angehängt wurde. Diese Wortwurzel *am- des nicht überlieferten, sondern rekonstruierten Indogermanischen wurde aus dem Vergleich hethitischer, albanischer und griechischer Wörter gewonnen. In altsächsischer Zeit ist der Gewässername im Raumnamen Emisga Mitte des 9. Jahrhunderts verfugt. Durch den Bindevokal des Suffixes i wurde das a der Stammsilbe zu e umgelautet. Die übrigen Vokale wurden dann im Laufe der Zeit ebenfalls zu e abgeschwächt: Amisia > *Emisia > Emisa > Emesa > *Emese > Emse > Ems.

Ein Beispiel für die Verwendung des s-Suffixes in germanischen Gewässernamen ist der Moersbach in Moers, der Anfang des 10. Jahrhunderts bereits als Ortsname in Murse < *Môr-isa ‚Sumpf-Bach‘, zu altniederdeutsch môr, althochdeutsch muor ‚Sumpf, Moor‘, erscheint. Somit ist auch für den Gewässernamen Werse bei Münster eine solche Bildung anzunehmen und von einer Grundform *War-isi / *War-isa oder *Wer-isi / *Wer-isa auszugehen. Doch an welches Wort wurde dieses Gewässernamen-Suffix -s angehängt?

In den germanischen Sprachen bieten sich zwei ähnlich lautende, aber nicht verwandte Anschlüsse an: zum einen an germanisch *wer / *war in der Bedeutung ‚Wasser‘. Dieses Wort ist noch im Altenglischen als waer ‚Wasser, See‘, im Althochdeutschen warah oder im Mittelhochdeutschen warch ‚trübes Wasser, Schleim, Eiter‘ bezeugt. Zum anderen lässt sich der Gewässername mit altsächsisch wer, war, wara ‚Hegung, Stauwehr, Schutzwehr, Fischzaun‘ verbinden. Der Gewässername Werse geht also entweder auf das Wasser selbst zurück (wie viele andere Gewässerbezeichnungen auch, z.B. die zahlreichen Aa-Bäche, von altsächsisch aha ‚fließendes Wasser‘) oder auf ein Stauwehr oder einen Fischzaun (zum Fischfang) im Fluss.

Von Werisun zu Wersen

Auch der Siedlungsname Wersen geht auf einen Gewässernamen *War-isi / *War-isa oder *Wer-isi / *Wer-isa zurück, wie die älteste Form belegt: Werisun – Dativ Plural zu einem Gewässernamen *Wer-isa oder *Wer-isi. Durch den Gebrauch des lokalisierenden Dativs Plural wurde die ‚Ansiedlung, die Wohnung mehrerer Menschen‘ an diesem Gewässer angezeigt. So heißt auch die Siedlung an der Bever nicht Bever, sondern Bevern (Ost- und Westbevern, Kreis Warendorf). Dieses Phänomen lässt sich bei eine Reihe von Ortsnamen beobachten. Ein Gewässername wird als Bildung im Dativ Plural zum Namen einer Siedlung, die sich an diesem Gewässer befindet. Der Ortsname Wersen bedeutet also zunächst einmal soviel wie ‚Siedlung an der Werse‘.

Der Gewässername Werse indessen geht – wie oben gezeigt – entweder auf das Wasser selbst oder (vielleicht wahrscheinlicher, weil das Wort wer ‚Wehr‘ noch heute im Deutschen verwendet wird) auf ein ‚Stauwehr‘ oder einen ‚Fischzaun‘ zurück. Die damaligen Bewohner Wersens erweiterten möglicherweise ihren damaligen Speiseplan um mit Fischzäunen gefangenen Fisch. Der namengebende Flusslauf war die Düte, die im Bereich der Siedlung Werisun damals den Abschnittsnamen Werse oder besser *Werisi / *Werisa trug. Das beweist der aus den historischen Belegen des Wersener Hofnamens Averwerser zu erschließende Bauerschaftsname *Averwerser Burschafft bzw *Overwersen, *Averwersen (‚diejenigen, die – von Wersen aus betrachtet – over, aver ‚jenseits, über‘ der Werse wohnen‘). Der Hofname Averwerser kommt 1511 als Hinrick to Overwersen, 1580 Johan zu Averwerßen, 1621 Friedtrich [!] zu Averwersen, 1634 Frederich zu Averwerßen, 1643 Averwesen, 1673 Averweerßen und 1755 Averwesen vor. 1643 wird diese Bauerschaft Averduter Burschafft genannt. Das zeigt, dass der Bauerschaftsname, der in der Folgezeit verschwindet, den 1643 gegebenen Verhältnissen angepasst worden war. Die Werse bei Wersen war zur Düte bei Wersen geworden. Spätestens im 17. Jahrhundert hatte sich also der Name Düte für den ganzen Wasserlauf durchgesetzt und den alten Abschnittsnamen des Gewässers – Werse – verdrängt.

Ausführlich und mit den Belegen: Christof Spannhoff, Werisun – Wersene – Wersen. Der Ortsname Wersen (Gemeinde Lotte, Kreis Steinfurt), in: Nordmünsterland. Forschungen und Funde 4 (2017), S. 257–264.