Vor kurzem standen wir an einem Endpunkt der Pariser Operette (➤ „Gefühle und Gemüse“), nun sind wir wieder am Anfang. In den 1860er Jahren stieg Charles Lecocq neben Jacques Offenbach zum Starkomponisten einer neuen Gattung auf. Sein erfolgreichstes Werk „La Fille de Madame Angot“ wurde ein Welterfolg, der mittlerweile so verblasst ist, dass wir die Originalfassung erst wieder kennerlernen müssen.
Die Geschichte der Blumenhändlerin Clairette, die sich in der politisch aufgeheizten Atmosphäre des Direktoriums zwischen dem leichtlebigen Straßensänger Ange Pitou und dem soliden, aber recht drögen Frisör Pomponnet entscheiden muss, wird 1872 am Brüsseler Théâtre des Fantaisies-Parisiennes uraufgeführt und allein dort über 500 Mal gespielt. Es folgen eine legendäre Produktion am Pariser Théâtre des Folies-Dramatiques (1873) und unzählige Neuinszenierungen und En-Suite-Vorstellungen rund um den Globus.
Ein Erfolgsfaktor ist zweifellos das geistreiche Textbuch von Clairville, Paul Siraudin und Victor Koning, das der Versuchung widersteht, einer glücks- und fortschrittsfeindlichen Gesellschaft mit Revolution und Klassenkampf zu drohen. Stattdessen feiern die Autoren den „catéchisme poissard“, den niemand so faszinierend energiegeladen und bauernschlau verkörpert wie die angeblich längst verstorbene Madame Angot.
Tatsächlich existiert das sagenumwobene Fischweib nur als literarische Figur, die ihre Popularität vor allem dem Dramatiker Antoine-François Ève verdankt. Dem Kultstatus der Madame Angot tut das aber keinen Abbruch. Hübsch und unverblümt, immer auf ihren Vorteil bedacht und nie um eine Antwort verlegen – so ist die Ikone der Pariser Markthallen Clairette und ihren Freunden „in Erinnerung“ geblieben.
Peu polie,
Possédant un gros magot;
Pas bégueule,
Forte en gueule,
Telle était Madame Angot!
Légende de la mère Angot, 1. Akt
Es ist wohl kein Zufall, dass in diesem betont proletarischen, eminent musikalischen und beispiellos vitalen Umfeld auch Offenbachs frühe Operette „Mesdames de la Halle“ (1858) und Reinaldo Hahns Spätling „Ciboulette“ (1923) zuhause waren. Charles Lecocq inspirierte das bunte Treiben ebenfalls zu einer schier endlosen Fülle mitreißender Einfälle. Sie sind im durchaus engeren Sinne des Wortes Gassenhauer – und gleichzeitig Teil eines großen, stilbewusst arrangierten und brillant komponierten Ganzen.
Die Stiftung Palazzetto Bru Zane hätte sich mit der Veröffentlichung der Originalversion, die einen schlanken, fast kammermusikalischen Orchesterklang und Varianten zu zwei Duetten bietet, bereits ein historisches Verdienst erworben. Doch die neue Einspielung ist auch gleich eine Referenzaufnahme auf herausragendem Niveau. Die quirlige Anne-Catherine Gillet (Clairette), Altmeisterin Véronique Gens (Mademoiselle Lange), die klangvollen Tenöre von Mathias Vidal (Pitou) und Artavazd Sargsyan (Pomponnet), Matthieu Lécroart als sonorer Larivaudière, der viel beschäftigte, perfekt eingestimmte Choeur du Concert Spirituel und das feinnervig musizierende Orchestre de chambre de Paris unter Sébastien Rouland entfesseln eine musikalische Sternstunde mit höchstem Unterhaltungswert.
Charles Lecocq: La Fille de Madame Angot, 2 CDs, Bru Zane
Eine größere Sammlung mit Materialien zur Operette, den Textdichtern und Charles Lecocq findet sich auf den ➤ Webseiten der Stiftung Palazetto Bru Zane.