Der umgedrehte Reliquienkasten

Wie kaum ein anderes Objekt aus der Dauerausstellung des Diözesanmuseums Osnabrück zeigt ein Reliquienkasten, wie entscheidend es ist, ein Kunstwerk von allen Seiten zu betrachten, um sich ihm annähern zu können.

So bietet etwa die Unterseite des Reliquienkastens eine Vielzahl von Informationen, die den Museumsbesuchern sonst verborgen bleiben: Drei jeweils in den Ecken befindliche Löcher verraten, dass er ursprünglich auf Füßen stand – wie es oft anzutreffen ist, waren diese wahrscheinlich in Form von Löwenpranken oder Klauen gestaltet.

Die äußere Form legt zunächst nahe, dass es sich bei dem Reliquienkasten um einen Tragaltar handelt. Hierfür ist allerdings ein Altarstein in der Deckplatte Voraussetzung. Tatsächlich ist das in die Deckplatte eingelassene Elfenbeinmedaillon aber organisch, so dass das Werk bereits ursprünglich als Reliquienbehältnis konzipiert gewesen sein muss.

Mit den neuesten Erkenntnissen kann dies vorerst nicht in Einklang gebracht werden. Denn als der Reliquienkasten anlässlich der Sonderausstellung „Der Domschatz auf links gedreht“ von einem Metallrestaurator gereinigt wurde, fielen diesem Schadstellen auf, die nach seiner Meinung darauf hinwiesen, dass der Reliquienkasten – wie ein Tragaltar – auf Reisen mitgeführt worden ist: Hierbei wurde er wahrscheinlich auf einem Sattel befestigt und „hüpfte“ während des Reitens auf dem Knauf auf und ab, so dass die spezifischen Beschädigungen auftraten.

Was machte den Reliquienkasten zu einem so verehrten Kunstwerk?

Die umlaufenden Inschriften, die die Reliquien auf den Längsseiten aufzählen, werden auf der Unterseite fortgesetzt. Auf den Längsseiten heißt es:

+ PETRVS · PAVLVS · IOHANNES · IACOBUS / [PH]ILIPPVS · IACOB/US· ANDREAS· TOMAS · BARTOLOMEVS · IUD/[A]S · SYMON · MAT[HEU]S“ (Petrus, Paulus, Johannes, Jakobus, Philippus, Jakobus, Andreas, Thomas, Bartholomäus, Judas, Simon, Matthäus) und „+ [DE] UESTIM(ENT)[IS· M]ARIE · PETRI · AP(OSTO)LI · CRISP[INI]/ [CRISPINI]AN[I….]R[ . . . ] / I[O]HANNIS (ET) PAVLI · SEBASTIA[NI] · MAVRICI / […]RIEMAG[I]· LAM[BERTI]“ (Über die Gewänder Mariens, des Apostels Petrus, des Crispinus, des Crispianus …, des Johannes und des Paulus, des Sebastian, des Mauritius, des … riemagus, des Lambertus).

Fortgesetzt heißt es auf der Unterseite:

„+ IPOLITI · ET · SOC(IORUM) · EI(US) · HERMETI/S · M(ARTY)RIS · BERNVARDI · CONFESS(ORIS)· FE/ FELICITATIS · M(ARTY)R(IS)“ (des Hippolyt und dessen Gefährten, des Märtyrers Hermes, des Bekenners Bernhard, der Märtyrerin Felicitas).

Diese Inschrift ist zwar weniger sorgfältig ausgeführt, stammt aber wohl aus derselben Zeit. Keine Frage, der Reliquienkasten enthielt mit Teilen von Gewändern, die der Gottesmutter Maria und dem Apostel Petrus zugeschrieben wurden, überaus wertvolle Reliquien! Mit denen Crispins und Crispinians, den Nebenpatronen des Osnabrücker Domes, waren in ihm auch Reliquien verwahrt, die für das Bistum eine immense Bedeutung hatten.

Doch es ist die sonst nicht sichtbare Inschrift auf der Unterseite, die das größte Geheimnis preisgibt, denn sie legt eine Datierung des Reliquienkastens nahe. Unter den enthaltenen Reliquien werden auch jene Bernwards von Hildesheim aufgeführt, der 1193 heiliggesprochen wurde. Dieses Jahr muss als Terminus post quem gelten. Das Bistum Osnabrück hat diese Reliquien also schon kurz nach der Kanonisation des heiligen Bischofs erworben.

Wie kaum ein anderes Objekt aus der Ausstellung zeigt der Reliquienkasten, dass es unerlässlich ist, ein Kunstwerk „auf den Kopf zu stellen“, um es zu erforschen.