Museen beherbergen Kunstschätze verschiedenster Art. Manchen Artefakten wird viel Raum zur Entfaltung ihrer Ausdruckskraft gegeben. In großen entspiegelten Vitrinen erscheinen sie zum Greifen nahe. Einige können sogar umschritten werden. Aber was ist mit jenen Kunstwerken, die nicht allansichtig präsentiert sind?
Nach welchen Kriterien wird in Museen entschieden, welche Seite eines dreidimensionalen Kunstwerkes den Museumsbesuchern zugewendet wird? Welche Ansicht ist eigentlich die Schauseite? Um solchen Fragen auf den Grund zu gehen, werden ausgewählte Kunstwerke des Osnabrücker Domschatzes auf links gedreht. So haben Besucher die einmalige Gelegenheit jene Ansichten zu bestaunen und Szenen zu sehen, die ihnen bisher verborgen geblieben sind.
Bei den prachtvollen Reliquienstatuetten ist es einfach die Schauseite zu bestimmen: es muss wohl jene Ansicht sein, die es gestattet, den Heiligen in ihre ausdrucksstarken Gesichter zu sehen. Aber „Ein hübscher Rücken kann auch entzücken“ – diese Redewendung trifft vor allem auf die Reliquienstatuette des Apostels Petrus zu. Warum? Erst die Rückseite offenbart, dass er das prachtvolle Ornat eines Bischofs trägt!
Wie der Goldschmied Lubbert de Wendt das bischöfliche Gewand schildert und wie er es für illusorische Zwecke nutzt, verrät, dass er ein wahrer Meister seines Faches gewesen ist: Glänzende und matte Flächen definieren den Stoff, der zudem teilweise fein vergoldet und mit präzise gefassten Edelsteinen besetzt ist. Den verzierten Kragen nutzte er, um den Heiligenschein zu befestigen, wodurch auf der Vorderseite der Eindruck erweckt wird, als würde er über dem Haupt des Apostels schweben.
Die einflussreiche Osnabrücker Familie von Bar beauftragte den Goldschmied um 1485/90 mit der Anfertigung dieser Reliquienstatuette, die eine überaus bedeutende Position einnahm: Gemeinsam mit den Reliquienstatuetten der übrigen Apostel stand sie im Osnabrücker Dom in der unteren Sockelzone des ehemaligen Hochaltarretabels, der sog. Goldenen Tafel. Aufgrund ihrer Neigung war sie vermutlich links von der Reliquienstatuette der thronenden Muttergottes platziert, die das Zentrum bestimmte. Ein prominenter Ort – passend für den Patron des Domes!
Ein Blick über die Schulter des Hl. Petrus gewährt weitere Einsichten, die den Museumsbesuchern sonst verborgen bleiben. Bei der Betrachtung der Schauseite ist zu sehen, dass der Apostel mit der rechten Hand einen silbernen und einen goldenen Schlüssel umfasst; in der linken Hand hält er ein geöffnetes Buch, über dessen Inhalt er mit gerunzelter Stirn nachzudenken scheint.
Erst rückseitig ist zu erkennen, dass auf den aufgeschlagenen Seiten Randbegrenzungen angelegt und Linien eingezeichnet sind. Die Linien tragen Inschriften mit gotischen Minuskeln, die sogar lesbar sind: „Dicit / ei ihesus / beatus / es / symo(n) / bar iona“ (Jesus sprach zu ihm: Du bist selig, Simon, Sohn des Jona) und „Tu es / christus / filius / dei / vii“ (Du bist Christus, Sohn des lebendigen Gottes) (Mtt 16,16 und 17). Wiedergegeben ist also das Christusbekenntnis des Petrus und die Zusage Jesu, die der bedeutenden Absicht vorangeht: „(…) auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen (…)“ (Mtt 16,18). Die ehrfürchtige Mimik des Apostels zeigt, dass er diese Aufgabe demütig annimmt.
Anhand der Reliquienstatuette des Hl. Petrus kann bestens nachvollzogen werden, dass ein Wechsel der Perspektive überaus lohnenswert ist, um ein Kunstwerk zu verstehen!