Eine Kogge als Kronleuchter

Im Laufe des Jahres haben wir bereits einige „Objekte des Monats“ aus dem Dortmunder Museum für Kunst- und Kulturgeschichte vorgestellt. Diesmal fiel die Wahl auf ein besonders ungewöhnliches Exponat. Die aufwändige Sanierung des Alten Rathauses wurde Ende des 19. Jahrhunderts von einem dreimastigen Schiff beleuchtet. Die Kogge ruhte auf einem Hirschgeweih, war mit einem Neptun verziert und komplett elektrifiziert.

Die Stadt Dortmund veranstaltete anlässlich der Einweihung des Dortmund-Ems-Kanals und des Hafens am 11. August 1899 ein aufwändiges Fest, zu dem Kaiser Wilhelm II. eingeladen war. Als Demonstration des Wohlstandes und der Größe von Dortmund wurde ein großer Festumzug gestaltet und die ganze Stadt herausgeputzt. Zuvor war ein neues Ratssilber für die festliche Tafel in Auftrag gegeben und das alte Rathaus der Stadt komplett saniert worden. Während Hafen und Kanal den technischen Fortschritt repräsentierten, zeugte die Wiederherstellung des Dortmunder Rathauses von einer Besinnung auf die mittelalterliche Vergangenheit. Dem ursprünglich spätromanischen Rathaus aus dem 13. Jahrhundert drohte im 19. Jahrhundert nach mehreren Umbauten und Umnutzungen der Abriss. Bereits seit der frühindustriellen Phase in Dortmund Mitte des 19. Jahrhunderts kam es wiederholt zu Bestrebungen, das baufällige Gebäude abzureißen. Doch verzögerten sich ein Abbruch und Neubau immer wieder.

1892 kam Stadtbauinspektor Friedrich Kullrich (1859-1934) nach Dortmund und machte es sich zur Aufgabe, das Rathaus vor dem Abriss zu bewahren. Mit Vorträgen und durch persönliche Kontakte gelang es Kullrich, Großindustrielle, Händler und Bürger für sein Vorhaben zu begeistern, die mehr als die Hälfte der gesamten Finanzierungssumme spendeten. Den Anfang machte der Brauereibesitzer und Stadtverordnete Joseph Cremer, der den damals enormen Betrag von 50.000 Mark stiftete. Ein Teil der Finanzierung erfolgte durch die Ministerien und die Provinz, die Stadt trug den Rest der Summe. Die gesamten Kosten beliefen sich auf 572.247, 50 Mark, von denen etwa die Hälfte für das Gebäude und die Hälfte für die Einrichtung verwendet wurden.

Ein Rathaus nach mittelalterlichem Vorbild

Kullrich leitete die Bauarbeiten, bei denen er den barocken Giebel durch einen neugotischen Stufengiebel ersetzen ließ. Es entstand ein respektabler Repräsentationsbau, der allerdings mehr der Fiktion als der Realität mittelalterlicher Architektur entsprach. Das neue „Alte Rathaus“ – 1898 fertiggestellt – schien wie aus der Zeit gefallen zu sein. Man bedenke: In Chicago gab es längst Hochhäuser, in Paris den Eifelturm und in Wien hatte bereits die U-Bahn den Betrieb aufgenommen. Auch orientierte sich die Baukunst in eine andere Richtung. Der Historismus war passé und der Jugendstil nun Ausdruck der Avantgarde.

Alles war Ende des 19. Jahrhunderts im Umbruch. Die Industrie prosperierte und ein Netz von Verkehrswegen dehnte sich über die Ruhrregion aus. Die Bevölkerungszahlen wuchsen rasant und damit auch viele Probleme: Wohnungsnot, Umweltverschmutzung, Armut. Die sprunghafte Entwicklung in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht, die sich wandelnde Mentalität der Bevölkerung stellten Traditionen und alte Identitätsangebote in Frage. Die rasanten Entwicklungen begegneten die Dortmunder Honoratioren mit der Suche nach neuen und individuellen Identifikationselementen.

Die Rückbesinnung auf die ruhreiche mittelalterliche Vergangenheit Dortmunds als Hanse- und Reichsstadt entsprach dem wilhelminischen Zeitgeist, sich als Kaiserreich auf die mittelalterlichen Kaisergestalten wie Karl der Große oder Friedrich Barbarossa zu beziehen. Innerhalb kurzer Zeit rückte das mittelalterliche Rathaus auf der Grundlage von Kullrichs Bemühungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dahinter steckte der Versuch, den wirtschaftlichen industriellen Fortschritt (die Gegenwart und Zukunft) mit Symbolen des Mittelalters (Vergangenheit) zu einer neuen Einheit zu verbinden.

Alte Gestalt, moderne Elektrik

Das Alte Rathaus wirkte wie ein Ruhepol in der sich stark verändernden Stadt. In die untere Etage zog die Städtische Altertumssammlung ein, die obere wurde für den nahenden Kaiserbesuch hergerichtet. Alte Gobelins zierten Wänden, aber das meiste – die farbigen Glasfenster, das goldenes Ratssilber und die „mittelalterlichen“ Skulpturen – waren neu. Über allem schwebte zudem ein dreimastiges Schiff, gebettet auf einem Hirschgeweih mit einem Neptun als mythische Gestalt. Als Kronleuchter erhellte es den Raum und verwies dabei auf Dortmunder Geschichte als Reichs- und Hansestadt mit Handelsbeziehungen bis weit in den Ostseeraum hinein.

Die Gestalt des Leuchters war durch und durch anachronistisch, aber durch seine Elektrifizierung zählte er zu den hochmodernen Dingen in diesem Raum. Bereits seit 1897 besaß Dortmund ein Elektrizitätswerk. Es war das erste Kraftwerk in Westfalen und ebenfalls von Stadtbauinspektor Kullrich erbaut worden. Er sorgte auch dafür, dass das neue „Alte Rathaus“ zu den ersten Bauten gehörte, die an das Stromnetz angeschlossen wurden. 1945 wurde das Schiff aus den Ruinen des Alten Rathaus gezogen, das im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war und nicht mehr aufgebaut wurde. Ohne Geweih, Neptun und Glühbirnen befindet sich das Zeitdokument heute in der Abteilung „Die neue Stadt“ im 4. Obergeschoss des Museums.