Der ➤ zweite Artikel dieser Serie endete auf einer Note des Verlustes von Landschaft und Natur. Im dritten Teil geht der Autor der Frage nach, ob sich diese Verluste nicht als geisterhafte Widergänger in die von ihm durchmessenen Landschaften eingeschrieben haben und inwiefern auch die Texte von Annette von Droste-Hülshoff und John Clare sich besonders durch ein Gespür für solche ‚unheimlichen‘ Erinnerungen auszeichnen – ganz im Gegensatz zu ihrem weit verbreiteten Ruf als Heimatdichter. Die für die Landgänge des Autors benutzten Karten spielen hierbei ebenfalls eine ausschlaggebende Rolle und lassen auch die abgegangenen Routen genauer nachvollziehen.
Mein Landgang vom Rüschhaus Richtung Burg Hülshoff und auch mein Gang rund um Helpston haben mich tief in eine Erinnerungslandschaft geführt, in eine Heide, die gleichzeitig wüst und leer sowie bis in den letzten Winkel vom Menschen überformt ist. Eine Heide, die resolut sie selbst ist und sich allzu romantischen oder literarischen Zuschreibungen entzieht, und eine Heide, die wie als Intertext zu den Gedichten von Annette von Droste-Hülshoff und John Clare fungiert.
Alt und Neu, Naturraum und Buchseite, treffen sich hier und fließen ineinander. John Clare schreibt in seinen Erinnerungen: „alle augenblicke fand ich neue wunder & wanderte in einer neuen welt mich selbst wohl fragend ob ich das ende der alten nicht schon gefunden hatte“. Jetzt, mitten in den Äckern des Münsterlandes, und zuvor in den Feldern Northamptonshires, und eingedenk der tiefgreifenden Veränderungen, die diese Landstriche durchgemacht haben und die die beiden Dichter erlebt und literarisch verarbeitet haben, erscheint mir, dass ich tatsächlich „das ende der alten“ Welt gefunden habe. Aus einer solchen Landschaft kehrt man nicht unverändert zurück, auch das wusste schon Clare:
wie ich in meine eigenen felder kam da erkannte ich sie nicht wieder alles schien so anders die über die bäume lugende kirche konnte mich kaum versöhnen
Dass unsere Umgebung einen maßgeblichen und häufig unterschätzen Einfluss auf uns ausübt, ist eines der zentralen Thesen der Psychogeografie. Nach ihrem Begründer Guy Debord ist sie „das Studium der spezifischen Effekte der geografischen Umgebung, egal ob bewusst organisiert oder nicht, auf die Emotionen und das Verhalten von Individuen“. An diesem Punkt des Landgangs, zwischen den Äckern und inmitten der Krähen und Windräder, fühle ich mich wie im Auge des Sturms von Gestern, Heute und Morgen.
Zeitschichten und Raumschichten
Das Erleben zeitlicher Schichtungen wird sicherlich verstärkt durch die gleichzeitige Nutzung dreier Karten auf dieser Wanderung. Im Hier und Jetzt verorte ich mich mit der Karte „Droste-Landschaft: Lyrikweg. Wanderkarte“, 2021 herausgegeben vom Center for Literature, Burg Hülshoff. Aber um mich wirklich auf die Spuren der Droste zu begeben, nutze ich auch eine von Andreas Raub gezeichnete Karte, die ihre gewohnten Wege vermerkt, die aber schon von 1998 stammt. Zuletzt, um auch einen Eindruck der historischen Landschaft zu erhalten, ziehe ich immer wieder das Urmeßtischblatt 4011 Münster (Westf.) von Schmeltzer 1841 zu Rate.

So verschieben sich Wege und Bäche, Wäldchen verschwinden und Äcker tauchen auf. Auch 2019 in Helpston war ich mit Karten aus zwei verschiedenen Zeiten unterwegs: der Karte John Clare Country. The Poet’s Favourite Places (zur Verfügung gestellt von der Website John Clare Countryside) und dem nach historischen Quellen erstellten Diagramm aus „The Northamptonshire Landscape“, die Helpston zu drei Zeiten zeigt: ca. 1779, ca. 1827 und ca. 1970. Im Auge des Erinnerungssturms in der münsterländischen Weite falten sich also fünf Karten, sieben Zeiten, zwei Landschaftskörper und zwei Textkörper zu einem psychogeografischen Assoziationsraum ineinander. Kein Wunder, das ich mich heimgesucht fühle.
Doppelbelichtete Landschaften
Aber in dieser Heimsuchung steckt auch eine Kraft, wie Iain Sinclair, seinerseits bekannter psychogeografischer Vielgänger, weiß, wenn er den irischen Autor W.B. Yeats zitiert: „Die Lebenden können die Toten in ihrer Vorstellungskraft unterstützen (im Original aus Yeats‘ A Vision, von Sinclair zitiert in seinem Vortrag zu John Clare). Vielleicht ist es das, was ich in meinen beiden Landgängen versuche: Die beiden toten Dichter „in ihrer Vorstellungskraft zu unterstützen“, ihren Blick, ihr Gehör in die heutige Zeit zu verlängern.

Diesen Blick werfen die Droste und Clare uns am stärksten von ihren wenigen erhaltenen Fotos entgegen, insbesondere von einer Daguerreotypie durch Friedrich Hundt von 1845 und einer Fotografie durch W.W. Law von 1862. Diese finden wir nur selten in den typischen Hagiografien über die beiden Dichter – zu unheimlich sind Droste-Hülshoffs starrer, eindringlicher Blick und Clares überschattete, einsame Augen. Aber wahrscheinlich ist es genau dieser Blick, der ihnen die Tiefendimensionen ihrer Heidelandschaften aufzeigen konnte. Die Augen sind unheimlich, weil sie das Unheimliche erblickten.

In der Weite und Leere der Heide sahen sie Geschichte und Geschichten. Exemplarisch zeigt dies das Ende von Droste-Hülshoffs Epos „Die Schlacht im Loener Bruch“ über den Dreißigjährigen Krieg:
Zweihundert Jahre sind dahin:
Und alle, die der Sang umfaßt,
Sie gingen längst zur tiefen Rast.
Der Tilly schläft so fest und schwer,
Als gäb‘ es keinen Lorbeer mehr;
Und Christians verstörter Sinn
Ging endlich wohl in Klarheit auf.
Wie trübt die Zeit der Kunde Lauf!
An seiner Krieger moos´gem Grab
Beugt weidend sich das Rind herab,
Und schreiend fliegt der Kiebitz auf.
Willst du nach diesen Hügeln fragen:
Nichts weiß der Landmann dir zu sagen;
„Multhäufe“ nennt er sie und meint
Stets sei Wachholderbusch ihr Freund.
Am Moore nur trifft wohl einmal
Der Gräber noch auf rost´gen Stahl,
Auf einen Schädel; und mit Graus
Ihn seitwärts rollend, ruft er aus:
„Ein Heidenknochen! Schau, hier schlug
Der Türke sich im Loener Bruch!
Auf den Hügeln der Heide reibt sich das Rind (ohne Gedächtnis, ganz im Jetzt) an den Gräbern der Toten. Doch im „schreienden“ Kiebitz hat schon die menschliche Klage ein Echo im tierischen Laut, für den Droste-Hülshoff auch hier, wie schon in „Die tote Lerche“ ein scharfes Ohr hat. Und auch die Gebeine der Toten klingen zumindest lautlich in den „Heide(n)knochen“ an und gehen so sprachlich in die Landschaft ein.
Ruinen

Clares Beschreibung seiner Ängste und seines Aberglaubens als Jugendlicher, die ihn auch als Erwachsenen nie ganz verließen, sind ebenso tief in der Geschichte der Helpstoner Heide verankert. So spricht er von „Baron parks wo sich einige ruinen römischer lager & sachsen burgen befanden ein fleck der natürlich bevölkert war mit etlichen gruselvollen geistern“. Sein Blick auf seine Umgebung könnte direkt aus Droste-Hülshoffs berühmten Gedicht „Der Knabe im Moor“ stammen:
ich erschrak fürchterlich als ich zum ersten mal ein irrlicht sah (…) ich (…) war als knabe schrecklich bang wenn ich die pferde abends weg führte aufs moor im frühling wenn die dachse im wald grausig kreisch laute machen wie schreie einer frau & auch das gurren der ringel tauben
Auch hier gehen, wie bei der Droste, Tierlaute unmerklich in Laute menschlichen Schreckens über. Was für die Droste der Dreißigjährige Krieg und für Clare die Zeit der Römer war, entpuppt sich auf meinem Landgang vom Rüschhaus zur Burg Hülshoff als etwas weniger weit Zurückliegendes.

Verlassen und unbenutzt liegt plötzlich ein Minigolfplatz vor mir, an dessen Gebeinen sich die Ziegen schubbern und über dem zerfleddert die Farben Schwarz-Rot-Gold wehen. Die Heimat, ein Gespenst. Es ist Zeit, im letzten Artikel zusammen mit Droste-Hülshoff und Clare einen Versuch zu wagen, sich von diesen Erinnerungen zu befreien.
Textnachweise Übersetzungen durch den Autor, sofern nicht anders erwähnt. John Clare: Reise aus Essex und andere Selbstzeugnisse, übersetzt von Esther Kinsky, Berlin 2017 / Merlin Coverley, Psychogeography, Harpenden 2010 / Annelise Raub: Auf Wegen Annette von Droste-Hülshoffs zwischen Haus Rüschhaus und Burg Hülshoff, Wiesbaden 1998 / John Clare Country. The Poet’s Favourite Places ➤ Link / Bob Heyes: John Clare and Enclosure, in: Pauline Buttery (Hg): John Clare Society Journal, Nummer 6, Leicester 1987 / Iain Sinclair: Roads without End, Vortrag am Pembroke College, Cambridge, 06.02.2024 ➤ Link / Annette von Droste-Hülshoff: Werke in einem Band, herausgegeben, in zeitlicher Folge geordnet und mit Nachwort und Erläuterungen versehen von Clemens Heselhaus, München 1970