Kein Ort für einen Kriegsgott

Im 19. Jahrhundert standen die Germanen als vermeintliche „Vorfahren der Deutschen“ hoch im Kurs. Deshalb setzte man alles daran, sie als eigene Hochkultur auszuweisen. Zu einer Hochkultur gehört aber auch eine ausgebaute Religion mit einer funktional differenzierten Götterwelt. Somit befassten sich die damaligen Historiker intensiv mit der germanischen Religion und Mythologie.

Doch wie so oft, wenn man ein bestimmtes Interesse vehement verfolgt, schossen die Forscher über das Ziel hinaus. Allerorten meinte man, germanische Kultplätze ausfindig machen zu können. Spuren dieser „heiligen Stätten“ sollten sich in zahllosen Ortsnamen erhalten haben – so die Vorstellung. Allerdings überstrapazierten viele Altertumsforscher bei der bemühten Suche ihre Belege und Funde. Das blieb natürlich nicht unwidersprochen. So mahnte 1926 der Ortsnamenforscher Hermann Abels im Meppener Heimatkalender:

In der neuesten Zeit ist eine gewisse Sucht aufgekommen, bei alten Ortsnamen vorchristliche Heiligtümer oder Opferstätten zu vermuten. Diese sind gewiß vorhanden gewesen, aber sie dienten einem großen Bezirk und waren daher sehr vereinzelt […]. So wollte man z.B. vor nicht langer Zeit in dem Namen des Dorfes Bokeloh den Beweis für ein altes Heiligtum des Thor finden. Ganz einfach: Bok heißt Bock, dieser war dem Thor heilig; Loh ist Gehölz, also ist Bokeloh das Gehölz gewesen, wo dem Thor Böcke geopfert wurden. Tatsache: Thor war ein nordischer, kein deutscher Gott; ob Donar mit ihm ganz gleichbedeutend war und Donar auch Böcke geopfert wurden, ist nicht bewiesen. Der Bock heißt übrigens in altsächsischer Zeit nicht Bok, sondern Buck; Boke ist immer die Buche.

Der vermeintliche ‚Wald heiliger Opfer-Böcke‘ entpuppt sich also bei näherem Hinsehen als einfacher ‚Buchenwald‘. Dieses von Abels gerügte, weil unkritische Verfahren zur Auffindung von germanischen Kultplätzen war typisch für seine Zeit. Die meisten angeblichen Heiligtümer waren also keine!

Johann Heinrich Diedrich Meyer und Grimms Mythologie

Diese Bürde trägt auch der Ortsname Dissen im Osnabrücker Land bis heute. Hartnäckig hält sich hier die Vorstellung, an der Stelle der Mauritiuskirche habe ein vorchristliches Heiligtum bestanden. Spürt man allerdings den Ursprüngen dieser Idee nach, so findet man die Verbindung von Dissen und der genannten Gottheit erstmals im Jahr 1850 in einem Beitrag des Osnabrücker Konrektors Johann Heinrich Diedrich Meyer, den dieser im zweiten Band der Mitteilungen des Historischen Vereins zu Osnabrück veröffentlichte.

Meyer wurde am 17. November 1798 in Bramsche geboren. Von 1810 bis 1817 erhielt er seine schulische Ausbildung in den Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale (ab 1811 an der dortigen lateinischen Hauptschule). Ab 1817 begann er sein Studium in Halle und ging 1819 nach Göttingen. 1820 trat er Hauslehrerstellen auf Gut Scharfenberg bei Brilon und in Münster bei Oberst von Ledebur an. 1822 wechselte er zum evangelischen Gymnasium in Osnabrück (Ratsgymnasium), wo er 50 Jahre bis 1872 unterrichtete. Am 28. Dezember 1878 verstarb Meyer 80-jährig in Osnabrück. In seinem Beitrag zu Dissen schrieb der Pädagoge:

Der dritte Wochentag heißt in der niederländischen Sprache des Mittelalters Disendach, auch Dicendach und Dissendach. S[iehe]. Grimm’s deutsche Mythologie S. 114. Wie er bei unsern Vorfahren in Westfalen geheißen hat, wissen wir nicht, aber bei den Altfriesen lautete er Tysdei, später Tyesdei, bei den Angelsachsen Tyvesdäg, im jetzigen Englisch Tuesday, im Schwedischen Tisdag, dänisch Tirsdag, altnordisch Tyrsdagr; bei den Alamannen hieß er mutmaßlich Ziuwes tac, im 11. Jahrh[undert]. Cies dac, jetzt nennen wir ihn Dinstag, welche Schreibung richtiger ist als Dienstag. Wie andere Wochentage hat auch dieser seinen Namen von einer Gottheit unsrer heidnischen Vorfahren, dessen nordischer Namen in der Edda noch gewahrt ist, er heißt Tyr, Genit[iv]. Tys. Die in Deutschland einst gültige Form hat leider keine Quelle uns aufbewahrt; Grimm folgert nur aus dem Namen des Tages, daß er gothisch Tius, angelsächsisch Tiv, althochdeutsch Zio gelautet habe, der zu dem griechischen Zeus, Genit[iv]. Dios oder Divos genau stimmt. Nach Grimm’s Forschungen war er einer der hehresten Götter des heidnischen Alterthums gleich dem griechischen Zeus, er lenkte insbesondere die Schlacht und verlieh den Sieg, er war also neben Wodan zugleich Kriegsgott, und eben darauf führt die uralte lateinische Benennung des dritten Wochentags dies Martis, von dem das französische Mardi stammt. Mars wird aber von den römischen Schriftstellern immer als ein Hauptgott aller germanischen Völker neben Mercur genannt, und da dieser dem Wodan, Jupiter aber dem Donar oder Thunar, nordisch Thor entspricht, so dürfte wohl die Annahme nicht fehlen, daß die Römer mit Mars den deutschen Gott Zio oder Tius bezeichnen. Nach den Göttern sind aber auch Ortschaften benannt, die wahrscheinlich durch den Dienst derselben geheiligt waren. Grimm führt Myth[ologie]. S. 139 eine ziemliche Anzahl auf, die nach Wodan oder Guodan benannt sind; aus dem osnabrückschen Sprengel gehört dahin Wodensholt, jetzt Godensholt im Oldenburgischen an der Nordgrenze des Saterlandes. Nach dem Donnergotte sind ebenfalls viele Orte benannt (Grimm S. 169); bei uns ist ein Donnerberg im Kirchspiel Wersen, dicht an der Hase, und gegenüber am anderen Ufer das ebenfalls mythische Hollenberg, jetzt Hollage; ein Donnerbrink ist südlich von Iburg, westlich davon ein Hilgediek und östlich die Hölle; ein anderer Holenberg, ist im Kirchspiel Hagen. Warum sollte nicht auch von dem Kriegsgotte Ortschaften den Namen haben? Die altniederländische Sprache liegt der altsächsischen nahe genug, und so hat es nichts Unwahrscheinliches, daß in Dissen, früher Tissene (Mös[er]. VII, S. 19) der Kriegsgott verehrt wurde. Erhält diese Vermuthung nicht eine Bestätigung dadurch, daß die Kirche in Dissen dem ritterlichsten aller Heiligen, dem heil[igen]. Georg gewidmet ist?
Bei der Einführung des Christenthums unter den steifköpfigen Sachsen ging man sehr vorsichtig und schonend zu Werke; man ließ die vorhandenen heiligen Stätten und verwandelte sie nur in christliche; wo Bonifacius die Donnereiche gefällt hatte, da baute er dem heiligen Petrus eine Kirche, eben so Karl d. G., wo vorher die Irminsul stand; für den starken heidnischen Gott gaben sie den Neubekehrten gleich den Fürsten der Apostel, damit sie sich den Tausch um so eher gefallen laßen. Sollte man nicht unsern Vorfahren, die bekanntlich anfangs sehr schwach im Glauben waren, auch dadurch zu Hülfe gekommen sein, daß man ihnen für den Götzen einen möglichst adäquaten heiligen gab, für den Kriegsgott den tapfern St. Georg? Ich glaube, es würde sich lohnen, wenn die Historiker etwas darauf achteten, welchen Heiligen im neubekehrten Deutschland die frühesten Kirchen gewidmet sind; vielleicht findet man Regel und Methode darin, die noch zu interessanten Aufschlüssen führen könnten. Welche heiligen in Duisberg (Tuisburcg, Dispargum), Dinslaken und andern Orten, die vielleicht von demselben Stamme herzuleiten sind, zuerst gewaltet haben, ist mir nicht bekannt.

Wie Meyer selbst angibt, beruft er sich für seine Ausführungen auf die „Deutsche Mythologie“ des Altertumsforschers und Philologen Jacob Grimm (1785–1863). Anhand der zitierten Seitenzahlen ist zu erkennen, dass er die zweite, zweibändige Ausgabe aus dem Jahr 1844 benutzte und nicht die einbändige Erstausgabe von 1835. Der Ortsname Dissen wird bei Grimm allerdings gar nicht behandelt geschweige denn genannt. Somit ist die Übertragung der mythologischen Angaben bei Grimm auf die Flur- und Ortsnamen des Osnabrücker Landes die Transferleistung Meyers. Durch ihn kam also die germanische Mythologie in Region. Und seine Überlegungen sollten auf sehr fruchtbaren Boden fallen, denn fast wörtlich übernahmen andere Lokalforscher der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts seine Ausführungen. So findet sich diese Vorstellung auch bei Alfred Bauer sen. (1878–1955), von dem sie dann insbesondere durch sein Buch „Bad Rothenfelde und seine Umgebung“ (1. Auflage 1922, 2. Auflage 1952) in die moderne lokale Heimatforschung eingegangen ist:

Die älteste Schreibweise im 9. Jahrhundert ist ‚Tissene‘, im 11. Jahrhundert ändert sie sich in Dissene, später in Dyssene, Dhissene und Disne. Der Name ist herzuleiten von Ziu, dem Schwertgott, der bei den Angelsachsen Tio, bei den Kelten Tyr genannt wurde; daher die Bezeichnung Tissene, die Stadt des Kriegsgottes. Bei der streitbaren Bevölkerung wird der mutige Schlachtengott eine besondere Verehrung genossen haben. […] So lebte Tyr als unvergleichlicher Held in der Vorstellung unserer Ahnen. […] So ist es erklärlich, daß Tyr in manchen Gegenden als Nationalgott verehrt wurde. Als aber die neue Zeit hereinbrach und die alten Götter von ihren Thronen sanken, da war der Glaube an den gefeierten Helden doch nicht ganz zu bannen und da die Boten des neuen Glaubens nur dadurch den Weg zu den verschlossenen Sachsenherzen finden konnten, daß sie ihnen ihr Heiligstes nicht völlig raubten, sondern die christliche Lehre den alten Anschauungen anpaßten, so wurde auch Ziu, der Schlachtengott, durch einen ebenbürtigen, gleichartigen, christlichen Helden ersetzt. St. Georg war es, der streitbare Drachentöter, dessen Kirche an der Stelle errichtet wurde, wo einst Tyr, dem Fenriswolfbezwinger, fromme Opfergaben gebracht worden waren.
So wurde in die heidnische Schale ein christlicher Kern gelegt und ein gewaltsamer Bruch vermieden, indem man dem Volke seinen Glauben nicht raubte, sondern im Laufe der Zeit unmerklich vertauschte. Eine interessante Bestätigung findet diese Auffassung dadurch, daß an den anderen Orten, die den Namen Dissen tragen, obwohl sie weit auseinander liegen, ebenfalls St. Georg der Schutzheilige der Kirche ist. Noch heute erinnert in Dissen eine unscheinbare Erzählung an den Mythus von Tyr und dem Fenriswolf und beweist, wie fest die alten heidnischen Göttergestalten im Volksgemüt verankert sind, daß selbst 1100 Jahre nicht imstande waren, den Glauben daran restlos auszutilgen. Dicht unterhalb der Kirche führt ein kleiner Steg über den Mühlenbach. Hier soll, wie alte Leute berichten, in finstern Nächten der ‚Weltrüe‘ umherstreichen und es ist ratsam, die Stelle zu meiden, um ihm nicht zum Opfer zu fallen. Unzweifelhaft haben wir in diesem sagenhaften Untier eine ferne Erinnerung an den einstigen Höllenhund vor uns, den Fenriswolf, der hier vor dem Heiligtum seines Bezwingers auf Beute lauert.

Und weiter schreibt Bauer:

Da die fränkischen Eroberer bei der Einführung des Christentums die leicht erregbaren Sachsengemüter in kluger Berechnung nach Möglichkeit zu schonen trachteten, so vermied man es, ihnen ihre Heiligtümer gänzlich zu rauben und begnügte sich damit, sie in christliche Kultstätten zu verwandeln. Man kann daher mit Sicherheit annehmen, daß das älteste Dissener Kirchlein dort erbaut wurde, wo Tyrs heiliger Hain vordem den Mittelpunkt der Götterverehrung gebildet hatte. Die strategische Bedeutung Dissens kann bei seiner Lage in der Ebene schwerlich groß gewesen sein, um Dissen zum einflussreichsten Orte des Gaues zu erheben. Der Grund dazu kann nur auf religiösem Gebiet gelegen haben und es ist wahrscheinlich, daß dem Heiligtum Tyrs als Kultstätte eine außergewöhnliche Bedeutung zukam, sodaß der Gedanke nahelag, Dissen nicht nur zum religiösen, sondern auch zum politischen Mittelpunkt des Gaues Sutherbergi zu machen.

Auf Seite 196 (1. Auflage; 2. Auflage S. 216) führt Bauer unter Punkt 16 auch Meyers „Bilder aus der Geschichte der Gemeinde Hilter“ und unter 17 die „Mitteilungen des historischen Vereins zu Osnabrück“ als Quellen auf, sodass auch bei Bauer die Verbindung zu Johann Heinrich Diedrich Meyer nachweisbar ist.

Der Ortsname Dissen

Spätestens seit Bauers sehr verbreitetem Buch ist diese Erklärung dann auch in der Dissener Heimatforschung festgeschrieben. Das einzige Argument dafür, dass in Dissen eine alte Kultstätte anzutreffen gewesen sei, ist aber lediglich der Ortsname selbst. Es gilt also, diesen genauer zu betrachten. Dass der Ortsname Dissen mit der germanischen Gottheit Tiu in Zusammenhang stehe, ist aber nur aus dem Erstbeleg, der als „Tissene“ (angeblich 895, Fälschung 11. Jahrhundert) erscheint, erschlossen worden. Bei dieser Form mit t ist allerdings hochdeutscher Schreibereinfluss vorauszusetzen (der sich vielleicht auch im Auslaut der Form „foravverch“ anstatt altniederdeutsch „forawerk“ in der betreffenden Urkunde zeigt), denn die übrigen Belege lauten durchweg auf d an. Niederdeutsch d entspricht hochdeutsch t: Dor – Tor; Dür – Tür, drinken – trinken etc. Durch die sogenannte (Alt-)Hochdeutsche oder Zweite Lautverschiebung wurde aus germanischem d das hochdeutsche t.

Das t im Götternamen *Tiu ist aber das germanische t, das durch die genannte Lautverschiebung zu hochdeutsch z wurde. Hier heißt die Gottheit dann auch folgerichtig Ziu, der sich im „ciesdach“ als Übersetzung des lateinischen „dies Martis“ ‚Tag des Gottes Mars‘ (für Dienstag) erhalten hat. Die von Bauer und anderen angeführte Form Týr ist hingegen die altnordische Wortgestalt, die in Nordwestdeutschland als Gebiet des Altsächsischen bzw. Altniederdeutschen nicht gegolten hat. Auch dass ein Týr im keltischen Kulturraum verehrt worden sei, ist eine nicht nachweisbare Marotte des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese „Keltomanie“ äußerte sich darin, dass man Vieles, was damals in Europa an Altertümern gefunden wurde, den Kelten zusprach. Keltische Ethnien haben aber im Osnabrücker Land niemals gesiedelt.

Der niederdeutsche Ortsname Dissen kann also nicht zum germanischen Wortfeld um tîwaz ‚göttlich‘ gehören – es sei denn, dass er bereits vor der Germanischen oder Ersten Lautverschiebung entstanden ist, durch die indogermanisches d zu germanischem t wurde. Für die Annahme eines derart hohen Alters – dieses Phänomen ereignete sich bereits einige Jahrhunderte vor Christi Geburt – gibt es aber keinen Anlass. Es kommt hinzu, dass mit *Tiu/*Ziu gebildete Ortsnamen bisher nicht bekannt geworden sind.

Anders als Bauer suggeriert, sind aber die Ortsnamen Dissen südlich der „Benrather Linie“ als Grenze des Niederdeutschen, z.B. das nordhessische Dissen bei Gudensberg, nicht mit dem im niederdeutschen Sprachraum liegenden Dissen zu vergleichen, weil die historischen Belege nicht übereinstimmen. Ein Anschluss an altnordisch dys ‚aus Steinen aufgeworfener Grabhügel; Steinhaufen‘, das auf germanische *dus ‚Hügel‘ zurückgeführt wird, kommt wegen des Stammvokals ebenfalls nicht infrage, denn im Niederdeutschen entspricht hier westfälisch dûs ‚Haufen‘. Der Ortsname Dissen hat aber in seinen historischen Belegen immer ein i.

Niederdeutsch diesig

Der Name Dissen ist vielmehr zum Wortfeld um niederdeutsch diesig (entstanden aus germanisch þemsa- ‚dunkel‘) zu stellen. Es handelt sich vermutlich um einen alten Gewässernamen, der dann auf die Siedlung übergegangen ist, die an dem Bach lag. Der Gewässername hat eine Parallele in der Diesse/Dieße bei Einbeck im Leinebergland. Problematisch ist allerdings nur, dass der Ortsname Dissen wegen des durchgehenden ss einen kurzen Stammvokal i aufweist, während niederdeutsch diesig ein langes î hat.

Entweder hat also im Ortsnamen eine Vokalkürzung von î > i stattgefunden oder aber er geht auf einen kurzen Ablautvokal zurück. Dissen enthält also keinesfalls den Götternamen Tiu, sondern dürfte auf einen Gewässernamen *þemsanô > *þimsana > *þisene (mit regelhaftem altsächsischen Nasalausfall vor /s/) > *Disene > Dissene zurückzuführen sein, der vermutlich an germanisch þemsa- ‚dunkel, diesig, nebelig‘ anzuschließen ist.

Das die Gleichung Dissen/Tissene = Stätte des Tiu angeblich stützende Argument, das die ältere Literatur durchzieht, nämlich dass das angebliche Patrozinium der Dissener Kirche, der Drachentöter St. Georg, als Ersatz für die germanische Kriegsgottheit Tiu stehe, ist ebenfalls nicht stichhaltig. Denn zum einen wird St. Georg für die Dissener Kirche erst in der Visitation von Albert Lucenius im 17. Jahrhundert genannt. Hier dürfte es sich aber um einen Fehler des Visitators handeln, denn eine mittelalterliche Urkunde des Jahres 1276 (nach dem Neubau der Kirche) nennt für den Hochaltar „St. Mauritii et B. Mariae virginis“, als den heiligen Mauritius und die Jungfrau Maria. Georg ist also als ursprünglicher Patron der Dissener Kirche nicht haltbar. Zudem hat die moderne Patrozinienforschung der Ersetzung heidnischer Gottheiten durch bestimmte christliche Heilige eine klare Absage erteilt.

Während sie in Skandinavien durchaus häufiger vorkommen und anders als die ältere Forschung angenommen hat, sind für den deutschen Sprachraum kaum theophore Ortsnamen nachzuweisen. So mahnte bereits 1914 der Mediävist Karl Helm (1871–1960): „Wann wird man endlich aufhören, um jeden Preis germanische Götter auch da finden zu wollen, wo sie nun einmal nicht hingehören? Und wann wird man aufhören, nordische Götter auf Deutschland zu übertragen?“ Auch zahlreiche Flurnamen, die früher als Hinweise auf heidnische Götterkulte angesprochen wurden, erweisen sich bei genauem Hinsehen als Fehldeutungen oder lassen sich wesentlich wahrscheinlicher in anderer Weise erklären.