Neue Perspektiven, ins Wasser geschrieben

Nachdem der ➤ dritte Artikel über Wanderungen mit Texten von Annette von Droste-Hülshoff und John Clare eine düstere Heide voller untoter Erinnerungen beschrieben hat, sucht der vierte und letzte Artikel nach hoffnungsvolleren Momenten. Er findet sie in dem in dieser Landschaft allgegenwärtigen Wasser, das auch bei Clare und Droste-Hülshoff immer wieder eine wichtige Rolle spielt.

so zog ich aus das herz voll hoffnungen freuden & entdeckungen erwartend dass ich wenn ich an den rand der welt gelangte dort hinab blicken könnte wie in eine grosse grube & ihre geheimnisse schauen würde so wie ich auch glaubte den himmel sehn zu können indem ich ins wasser blickte
Clare: Reise nach Essex

Erst beim zweiten oder dritten Lesen fällt mir der perspektivische Trick auf, mit dem John Clare sich selbst und damit auch uns einen Blick auf Himmel und Hoffnung ermöglicht: Er schaut indirekt, über die Spiegelung im Wasser. Das Wasser als flüssiges Element ist immer im Wandel, ist ohne Erinnerung und begleitet mich schon während meines ganzen Landgangs Richtung Burg Hülshoff – einer Wasserburg. Auch rund um Helpston war Wasser immer präsent. Ja der Begriff Landgang selbst lässt an das Wasser denken.

Grenzen zerfließen

Annette von Droste-Hülshoff fängt dieses Moment der Hoffnung im Netz der Wasserfäden ein, über die sie in „Der Weiher‘“ schreibt:

Neben uns des Himmels Sterne blinken,
Sonne sich in unserm Netz gefangen –
Nein, des Teiches Blutsverwandte, fest
Hält er all uns an die Brust gepreßt,
Und wir bohren uns´re feinen Ranken
In das Herz ihm, wie ein liebend Weib,
Dringen Adern gleich durch seinen Leib,
Dämmern auf wie seines Traums Gedanken

Wenn wir unsere Hülle von der Natur durchbohren lassen, uns verletzlich machen, dann können wir die Schwere der Erinnerungen hinter uns lassen und in der Landschaft „aufdämmern“ – das poetische Gegenstück zum ‚Aufwachen‘. Dies ist jedoch nur möglich durch den genauen Blick, den Droste-Hülshoff und Clare auf ihre Landschaften werfen. Er verortet sie ganz in der Gegenwart der Erfahrung. Wie sonst könnte man auf die unscheinbaren Wasserfäden blicken?

Röhricht in einem kleinen Weiher südlich des Rüschhauses

Und wie sonst hätte Clare einen Blick für die sogenannte Wasserpest, von der er in „The old pond full off flags and fenced around“ [Der alte Teich voll von Schwertlilien und umzäunt] schreibt? In diesem Gedicht entwirft er das Bild eines Miteinanders von Mensch und Natur, das sich möglich und prekär zugleich im liminalen Raum, an der Grenze von Natur und Kultur, Wasser und Land, Anwesenheit und Abwesenheit entfaltet:

The old pond full of flags and fenced around
With trees and bushes trailing to the ground
The water weeds are all around the brink
And one clear place where cattle go to drink
From year to year the schoolboy thither steals
And muddys round the place to catch the eels
The cowboy often hiding from the flies
Lies there and plaits the rushcap as he lies
The hissing owl sits moping all the day
And hears his song and never flies away
The pinks nest hangs upon the branch so thin
The young ones caw and seem as tumbling in
While around them thrums the purple dragon flye
And great white butter flye goes dancing by

[Der alte Teich voll von Schwertlilien und umzäunt / mit Bäumen und bis auf den Boden hängenden Büschen / Die Wasserpest ist rund ums ganze Ufer / Und eine klare Stelle, wo das Vieh trinkt / Von Jahr zu Jahr stiehlt sich der Schuljunge hierhin / Und matscht herum, um die Aale zu fangen / Der Kuhhirte, sich häufig vor den Fliegen versteckend / Liegt hier und flicht sich den Schilfhut im Liegen / Die zischende Eule sitzt hier und bläst Trübsal den ganzen Tag / Und hört sein Lied und fliegt nicht fort / Das Nest des Buchfinks hängt am Ast so dünn / Die Jungen krächzen und scheinen herum zu purzeln / Während um sie herum die violette Libelle dröhnt / Und ein großer weißer Schmetterling vorbeitanzt]

Auffällig ist auch hier wieder Clares Ohr für die Geräusche – das Zischen der Eule, das Lied des Kuhhirten, der Krächzen der Buchfinkenjungen, das Dröhnen der Libelle – die harmonisch miteinander existieren. Wie das Nest des Buchfinken zittert und tanzt diese Möglichkeit einer dicht verwobenen Koexistenz „am Ast so dünn“ vor mir, als mein Landgang im Münsterland zu Ende geht.

Stadt. Heide.

Und auch wenn es mir auf der Rückfahrt noch einmal so scheint, als wäre die Heide, wie sie Clare und Droste-Hülshoff erlebt haben, verschwunden, ihre Abwesenheit nur noch präsent in den Namen von Autobahnraststätten wie „Plugger Heide“ oder „Gimbter Heide“ entlang der A1, begleitet mich dieses hoffnungsvolle Bild zurück in die Stadt.

Baubrache – urbane Heide

Hier vermeine ich eines Tages, im Spiegel des Wassers eine andere, eine urbane Heide zu entdecken. Ein neues wüstes Land, gezeichnet vom Menschen und doch nicht ohne Hoffnung. Wahrscheinlich war es diese komplexe Perspektive, die mich auf die Heide trieb, um Clare und Droste-Hülshoff in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Um mit Clares Worten zu enden:

Deine Einsamkeiten
Schätzt der unendliche Himmelsraum
Sie stimmen mein Herz auf wärmere Saiten
Und erheben mir den Traum
Der Himmel lächelt
Auf den geringsten Ort
Gibt allem, was da kriecht und fliegt und hechelt
Ein kräftigendes Losungswort
Clare: ‚Die Schnepfe‘, in: A language that is ever green