Samuel Taylor Coleridge und Dorothy und William Wordsworth in Deutschland (1798/99). Teil 2: Ratzeburg und Goslar.
Nachdem sich Samuel Taylor Coleridge sowie William und Dorothy Wordsworth, die in ➤ Teil 1 unserer Reihe als „Romantiker auf der Reeperbahn“ unterwegs waren, in Hamburg getrennt haben, steuern sie unterschiedliche Reiseziele an. Coleridge hält sich in Ratzeburg auf, während die Wordsworths in Goslar unterkommen. Dabei erleben sie Deutschland aus zwei ganz unterschiedlichen Perspektiven.
Wieder einmal tanzt Coleridge und vergnügt sich mitten unter den Menschen – diesmal jedoch auf dem Eis. Und wieder einmal haben sich William und Dorothy Wordsworth aus der Gesellschaft zurückgezogen in ihre dunkle Stube. Es ist der Dezember des Jahres 1798 und der kälteste Winter des Jahrhunderts hat begonnen – im Januar ist es teilweise zwanzig Grad unter null (Griggs, S.458). Das führte aber auch dazu, dass der See bei Ratzeburg, wo sich Coleridge seit Ende September aufhielt, ausreichend gefroren war, um darauf Schlittschuh zu laufen. Dies tat der unternehmungslustige Engländer natürlich auch, unter anderem auf einem „Eisstuhl“ der von zwei Schlittschuhläufern angeschoben wurde und so schneller war „als zwei Pferde galoppieren können“ (ibid., 462).
Coleridge berichtet davon seiner Frau Sara in einem Brief vom 14. Januar 1799, der einen seiner Höhepunkte in einer kurzen aber poetischen Aufzählung der Freuden des Schlittschuhlaufens findet:
Die unendlich feinen Eispartikel, welche die Schlittschuhe herausschnitzen, & welche vor dem Läufer her kriechen & rennen wie ein niedriger Nebel, & bei Sonnenaufgang oder -untergang farbig werden; 2tens der Schatten des Läufers im Wasser, durch das transparente Eis gesehen, & 3tens das melancholisch wogende Geräusch des Schlittschuhs, das nicht ohne Abwechslung ist; & wenn sehr viele zusammen Schlittschuh fahren, geben die Klänge und Geräusche einen Impuls an die eisigen Bäume, & die Wälder um den ganzen See herum läuten! (ibid.)
Ähnliches muss er William und Dorothy Wordsworth schon in einem früheren, nicht überlieferten Brief beschrieben haben, denn Dorothy nimmt in ihrem Antwortbrief aus Goslar darauf Bezug. Sie verweist auf die Aussicht, im Lake District, wohin sie und William Coleridge „locken“ wollen, gemeinsam Schlittschuhlaufen zu gehen und zitiert dann einige Zeilen eines Langgedichts, an dem William gerade arbeitet (Selincourt, S.208). Es ist faszinierend zu sehen, welche Parallelen Coleridges Beschreibung und Wordsworths Zeilen aufweisen. So beschreibt William unter anderem wie
[…] jeder vereiste Stein
wie Eisen tinkelte, dieweil in den Tumult
die fernen Hügel einen fremden Ton
von Trauer (unbemerkt nicht) sandten […] (William Wordsworth, Gedicht, S.24, Z.4-7).
Auch verlässt der junge Wordsworth im Gedicht „die wilde Schar“, um durchs Gefunkel eines Sterns, der auf dem Eis sich spiegelte, zu schneiden […] (ibid., S.24, Z.14f).
Wir haben es hier mit einem Auszug aus dem Text zu tun, der später William Wordsworths Ruhm begründet: „Das Präludium oder das Reifen eines Dichtergeistes“, sein autobiografisches Langgedicht. Diese beiden Herangehensweisen von Coleridge und Wordsworth sind exemplarisch für ihre Deutschlandreise. Während Coleridge sich dem Land, den Leuten und den Erfahrungen, die sie zu bieten haben, hingibt, ziehen sich William Wordsworth und seine Schwester Dorothy fast völlig zurück und fokussieren sich auf ihr Inneres. Doch wir werden sehen, dass die Beurteilung, wer nun am meisten von seiner Deutschlandreise profitiert hat, nicht so einfach zu treffen ist, wie es nach dieser Gegenüberstellung scheinen mag.
Coleridge in Ratzeburg
Wie schon im letzten Artikel beschrieben, haben sich Coleridge und die Wordsworths Ende September 1798 in Hamburg getrennt. Coleridge zieht es nach Ratzeburg und die Wordsworths reisen nach Goslar weiter, um sich dort für einen längeren Aufenthalt einzurichten. Ihren ursprünglichen Plan nach Eisenach oder Weimar zu ziehen haben sie wegen der zu hohen Kosten und der Reiseschwierigkeiten aufgrund des 2. Koalitionskrieges aufgegeben (Griggs, S.418; vgl. auch Ashton, S.148).
Die Wege nach Ratzeburg und Goslar werden von allen drei Reisenden als mühselig empfunden, wie überhaupt die meisten ihrer Reisen in Deutschland. Coleridge bringt den Kontrast zwischen einer schönen Landschaft und den unmöglichen Bedingungen humorvoll auf den Punkt, wenn er schreibt, sie fuhren „über verdammt schlechte Straßen / durch verdammt herrliche Wälder“ (ibid., 457). Auch bezüglich Ratzeburg selbst ist er zwiespältig. Dass er die Umgebung und vor allem den See, der die Stadt umgibt, genossen hat, verdeutlicht die Episode mit dem Schlittschuhlaufen. An der Stadt schätzt er die Ruhe und die gute Luft, ist aber von der landestypischen Architektur nicht begeistert: „Das Schlimmste ist, dass Ratzeburgh [sic] ganz aus Ziegeln und Kacheln gebaut ist – & daher ist alles rot – ein Klumpen aus staubroten Ziegeln – dies mag dir eine Idee von perfekter Ordentlichkeit geben; aber es ist nicht schön“ (ibid., 460). Mehr und mehr verliebt er sich aber in die Spaziergänge in Ratzeburg, die Abwechslung und die Aussichten, die sie bieten (Coburn, #344).
William und Dorothy Wordsworth in Goslar
Auch William und Dorothy Wordsworth haben an ihrem neuen Aufenthalt Goslar einiges zu kritisieren – sie hatten anderes von einer ehemaligen Kaiserstadt erwartet. Auf Dorothy macht sie einen „leblosen“ Eindruck (Selincourt, S.203). Coleridge beschreibt die Stadt bei einem späteren Besuch im Mai 1799, als die Wordsworths schon wieder zurück in England waren, als eine „hässliche stille Wüste von einer Stadt“ (Griggs, S.514). Dieser Eindruck deckt sich durchaus mit der Realität, denn die Plünderung durch die Schweden im Dreißigjährigen Krieg sowie zwei große Brände im 18. Jahrhundert hatten der Stadt schwer zugesetzt (Gittings und Manton, S.98f.). Der letzte dieser Brände lag erst acht Jahre zurück und hatte gut 400 Häuser zerstört.
Auch für William und Dorothy werden die Spaziergänge zu einem ihrer wichtigsten Zeitvertreibe. Trotz des Jahrhundertwinters wandern sie mindestens für eine Stunde, häufig aber länger. William Wordsworth muss dabei in seinem „grünen Mantel, durchgängig mit Fuchsfell ausgeschlagen“ auf die deutschen Einwohner einen ungewöhnlichen Eindruck machen (Selincourt, S.213).
Während Coleridge zu Anfang seiner Zeit in Ratzeburg kaum Deutsch sprach und die Schrift so schlecht lesen konnte, dass er noch nicht einmal die ihm mitgegebene Wegbeschreibung zu seinem ersten Kontakt verstehen konnte (Griggs, S.448), nutzt er die vier Monate dort (1.10.1798 bis 6.02.1799) intensiv zur Verbesserung seiner Sprachkenntnisse. Schon im Januar versteht er „alles, was zu mir gesagt wird und einen Großteil dessen, was sie untereinander sprechen“ (ibid., S.453). Dabei hat er die größten Schwierigkeiten mit einer normalen Konversation, da sich seine Kenntnisse – wie typisch für ihn – auf das Triviale auf der einen Seite und das Metaphysische auf der anderen Seite konzentrieren (ibid.). Darüber hinaus kann er noch Alt- und Mittelhochdeutsch „besser als die meisten gebildeten Einheimischen“ lesen (ibid. S.453f.).
Gleichzeitig wird Coleridge als Engländer sehr positiv in Ratzeburg aufgenommen, ist die Stimmung dieser Nation gegenüber doch aufgrund des aktuellen Krieges sehr wohlwollend. Er spricht von einer regelrechten „England-Manie“, die soweit führt, dass alle möglichen Produkte, von Spielkarten bis hin zu Medizin als ‚typisch Englisch‘ beworben werden – egal ob das nun stimmt oder nicht (ibid., 429). Und doch fühlt Coleridge sich immer wieder einsam. Voller Neid schreibt er den Wordsworths: „Ihr habt einander und damit alles; aber ich bin einsam und brauche euch!“ (ibid., 452).
Gehört England dem König von Dänemark?
Die Wordsworths sehen das genau umgekehrt. Für sie hat Coleridge alles richtig gemacht und lebt „in einer ganz anderen Welt als wir“, „unter Baronen, Grafen und Gräfinnen“ (Selincourt, S.214). Für Coleridge gibt es hierfür auch eine ganz klare Ursache: William hätte nicht gemeinsam mit seiner Schwester reisen sollen, denn „Schwester wird hier nur als ein anderer Name für Geliebte angesehen“ (Griggs, S.459). Aus seiner Sicht steht die geschwisterliche Treue der Wordsworths dem eigentlichen Anliegen ihrer Deutschlandreise im Weg. Es ist vielleicht anekdotisch aber durchaus bezeichnend, dass, während Coleridge von einer England-Manie berichtet, die Wordsworths lediglich auf einen wandernden Hutmacher treffen, der, auf England angesprochen, nur unwissend entgegnet, „England? was ist das für ein land? gehört es an dem Konig von Danemark?“ (Selincourt, S.220; Deutsch im Original).
Daher scheint es auf den ersten Blick auch so, dass sie ihren ähnlich langen Aufenthalt in Goslar (6.10.1798 bis 23.02.1799) nicht so gewinnbringend nutzen wie ihr Freund. Wahrscheinlich lernt Dorothy in dieser Zeit besser Deutsch als ihr Bruder. Während sie über einen „akzeptabel regelmäßigen Fortschritt“ berichten kann, arbeitet ihr Bruder „hart, aber nicht so sehr an seinem Deutsch“ (Gittings und Manton, S.90). Gegen Ende ihres Aufenthalts in Goslar konstatiert William einen Fehlschlag auf ganzer Linie: „Mein Fortschritt im Deutschen mit Blick auf einen literarischen Nutzen wiegt nicht einmal so viel wie Staub in der Waagschale“ (Selincourt, S.221). Und doch: als die Wordsworths Ende Februar Goslar verlassen, um sich auf die Rückreise nach England zu machen, hat William die ersten 400 Zeilen seines wichtigsten Werkes, des Präludiums, im Gepäck (Gill, S.161).
Den Rückweg nach England nutzen die Wordsworths noch für eine Wanderung durch den Harz, die auch Coleridge von Göttingen aus einige Monate später unternehmen wird. Mit diesen letzten Stationen ihrer Deutschlandreise wird sich der nächste und abschließende Artikel auseinandersetzen. Er erscheint im Mai 2023.
Textnachweise der zitierten und erwähnten Publikationen (alle Übersetzungen durch den Autor, wenn icht anderweitig ausgewiesen):
Earl Leslie Griggs, Collected Letters of Samuel Taylor Coleridge, Oxford 1956
Kathleen Coburn, The Notebooks of Samuel Taylor Coleridge, London 1957
Rosemary Ashton, The Life of Samuel Taylor Coleridge, Oxford 1996
Ernest de Selincourt, The Early Letters of William and Dorothy Wordsworth, Oxford 1935
Stephen Gill, William Wordsworth. A Life, Oxford 1989
Robert Gittings und Jo Manton, Dorothy Wordsworth, Oxford 1985
William Wordsworth, Gedicht, noch ohne Titel, für S. T. Coleridge (The 1805 Prelude), Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Wolfgang Schlüter, Berlin 2015