Verwirkte Landschaft?

Im vorangegangenen Aufsatz ➤ „wo granit und schiefer einander begegnen‘. Steine, Erinnerungen“ ging der Autor der Frage nach, inwiefern Lyrik einen neuen Blick speziell auf industrielle und postindustrielle Landschaften eröffnen kann. Im folgenden Text und weiterhin im engen Dialog mit den Gedichten erweitert er nun den Blick über das Gelände der elterlichen Firma hinaus und betritt die Erinnerungslandschaft seiner Herkunftsregion, des Zementreviers Beckum in Westfalen.

Über hundert Jahre und vier Generationen hindurch hat das Fliesen-, Platten-, und Mosaikgewerbe meiner Familie bestanden. Über hundert Jahre interagierten Steine und Körper und hinterließen aufeinander ihre Spuren. Dies alles wird nun bald ein Ende finden. Das Gelände befindet sich gerade im Übergang vom industriell genutzten zum postindustriellen Zustand: Boden und Gebäude sind verkauft, eine andere Nutzung, gegebenenfalls auch ein völliger Abriss und eine Neunutzung für Wohnhäuser wird sich in den nächsten Jahren vollziehen.

Wahrscheinlich ist es dieser Moment des Abschieds, der mich innehalten und meine Beziehung zu den Steinen, die mich einen großen Teil meines Lebens umgeben haben, zum ersten Mal wirklich reflektieren lässt. Dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wie sie durchaus typisch zu sein scheint für eine Auseinandersetzung mit Industrielandschaften nicht nur in Beckum, sondern in Deutschland insgesamt:

Was die Industriekultur und ihre Landschaft (…) auszeichnet, ist ihre Historizität. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung und diskursive Kulturalisierung nebst aufwertender Ästhetisierung folgt erst auf das sich in den 1980er Jahren entwickelnde Bewusstsein, dass die Industrie künftig eine weniger dominierende Rolle spielen würde oder gar Gefahr laufe, langfristig zu verschwinden. Vor diesem Hintergrund resümiert Rainer Gruenter nicht ohne Ironie: „Es ist heute die rostdunkle Landschaft einer geschichtlichen und technisch zu Ende gekommenen Industrie, die erst durch ihre Ruinen in den Rang einer Landschaft erhoben wird.“
Probst, S.68

Das Resultat des noch nicht realisierten aber unausweichlichen Verschwindens unseres Firmengeländes wird eine postindustrielle Landschaft sein, die die Literaturwissenschaftlerin Inga Probst definiert als eine solche

(…), deren industrielle Prägung während der Blütezeit der Industrie zwischen dem frühen 19. Jahrhundert und dem ausgehenden 20. Jahrhundert signifikante Spuren hinterlassen hat (…). Merkmale der postindustriellen Landschaft sind folglich: industrieller Leerstand, Devastierung, Abwanderung und Entvölkerung, können aber auch Neu- und Umnutzung, Musealisierung und Konservierung bedeuten.
Probst, S.71f.

Damit reiht sich die Geschichte unserer Firma und ihr Ende (oder ihre Umwandlung) ein in die Geschichte der Stadt, in der sie verortet ist. Denn der Prozess der Deindustrialisierung ist in Beckum schon wesentlich weiter fortgeschritten.

Postindustrielle Landschaften

Die Landschaft der kleinen Stadt Beckum in Westfalen wurde seit der Gründung des ersten Zementwerks 1872 bis zur großen Schließungswelle 1967 (siehe: Grothues) im wahrsten Sinne in umwälzender Weise von der Zementindustrie geprägt: Steinbrüche fraßen sich in den Boden, große graue Zementwerke, wie in einer Autogenese aus dem Beton, den sie produzierten, entstanden, dominierten bald den Horizont.

Mit 32 Zementwerken im Jahre 1930 erreichte der Bestand sein Maximum: Das Beckumer Revier galt als größte ‚Zementmulde‘ der Welt.
Grothues

Auch der Blick aus dem Küchenfenster meiner Kindheit führte über den Asphalt des Firmenhofes hinweg zu einem Zementwerk:

Heute prägen immer noch große Steinbrüche, ehemalige Abbauflächen und ausgedehnte Fabrikanlagen die Landschaft um Beckum und Ennigerloh. Allerdings befindet sich der Raum in einem drastischen Strukturwandel, nachdem die Kalksteinförderung und Zementproduktion in ganz Deutschland rückläufig sind.
Grothues

In ‚Stadt der Avantgarde‘ und mit Blick auf den ähnlich invasiven Kalibergbau schärfte Daniela Danz mein Bewusstsein dafür, wie dieser Strukturwandel zu einer neuen Wahrnehmung unserer Lebensumgebung führen kann, wie er uns zwingt, neue über die Landschaften nachzudenken, die wir so lange gedankenlos ausgebeutet haben:

Die Landschaft tritt wieder in die Erzählung ein,
in der wir uns eine Stadt entwarfen, ein Leben über dem Kali.
Eine Landschaft, die wir geschaffen haben,
mit Schütthalden, deren Kerne sich verdichten,
deren Oberfläche verkarstet. Weißen Sehnsuchtsbergen,
die wir am Ende einer schurgeraden Straße
in der Ferne leuchten sehen.
Ihre Unwirklichkeit macht uns still. Wie das gleißende
Weiß des Salzsees.
Die Landschaft betritt unsere Geschichte
und wir bemerken, wie sie schwächer wird.
Danz, S.72

Bemerkenswert ist die dieser postindustriellen Landschaft innewohnende ganz eigene Schönheit, deren Erinnerungsschwere weit entfernt ist von den touristischen Renaturierungen, wie sie in Beckum und anderswo vielfach zu beobachten sind (und die auch ihren Sinn und ihren Platz haben). Denn erst in der „Unwirklichkeit“ solcher Landschaften können wir von der wirklichen Dimension unseres Handelns und seiner Konsequenzen ergriffen werden.

Wir realisieren: Nicht nur wir gestalten die Landschaft, sondern die „Landschaft betritt unsere Geschichte“ und formt unsere Gegenwart und Zukunft. Danz erkennt ebenso, dass diese Realisierung unseres Ausgesetzt-Seins, wie es typisch ist für die heutige Zeit, manchmal schwer zu ertragen ist:
Wir müssen aushalten zu wissen,
dass wir auf nichts gebaut haben. Wir müssen
mit allen Möglichkeiten leben.
Wir wünschen uns die Erzählung zurück, von der Zukunft,
vom Aufbau, der Arbeit, von den nützlichen Tieren, die wir waren.
Danz, S.73

Erinnerung und Zukunft

Die Erinnerung an unsere Firma am Zeitpunkt ihres Verschwindens, die Erinnerung an die Beckumer Zementindustrie durch Industrieruinen und Landschaftsnarben: Warum kehren wir an diesen vermeintlichen Scherbenhaufen der Geschichte zurück? Kinsky schreibt hierzu in ihrem Gedicht ‚Postindustrial Site‘:

why come here sagt die frau am steg
sie fasst die scherbentasche fester
das bruchwerk leuchtet die inseln ferngerückt
a broken place man rette seine haut
vor all den narben die hier möglich sind.
So liegt ein morgen unberufen
in seiner furche zeit.
Kinsky: schiefern, S.97

Mir wird klar: Ja, es geht um das Aufklauben der Bruchstücke meiner Erinnerung, um ein gewisses Maß an Nostalgie im Angesicht des Verschwindens, um das Bewahren meiner (einer) Identität. Aber der Blick ist nicht nur rückwärts in die Vergangenheit gerichtet. Genauso wichtig ist der Blick auf unser zukünftiges In-der-Welt-Sein in und mit den uns umgebenden Landschaften. Dieser Morgen ist noch „unberufen“. Oder wie Daniela Danz es ausdrückt:

Vielleicht aber ist eine andere Tür als unsere einen Spalt weit offen,
ein Gleißen dringt heraus und dir ist, als träumtest du, und trittst ein.
Danz, S.80

Für mich steckt dieses Gleißen auch in den funkelnden Einschlüssen des Tonglimmerschiefers unserer Tischplatte. Mehr noch: Der darin eingeschlossene Ammonit symbolisiert für mich in seiner Spiralform genau das Zeitverhältnis, wie es uns auch in Kinskys und Danz‘ Gedichten begegnet: Ein Zeitverhältnis, in dem über das genaue Hinschauen und Erfühlen unserer Vergangenheit die Möglichkeit einer anderen Zukunft aufgeschlossen wird. Warum also über Steine schreiben? Weil sie uns aus uns heraus in eine andere Zeit versetzen können.