Von ausgestorbenen Wörtern

Ortsnamen können sich im Laufe der Zeit stark verändern. Das ist meistens dann der Fall, wenn das ursprüngliche Motiv der Benennung mit der Zeit verschwunden und dadurch der anfängliche Hintergrund eines Ortsnamens in Vergessenheit geraten ist. Denn Ortsnamen haben zum Zeitpunkt ihrer Entstehung immer einen wirklichen Sinn, eine Bedeutung.

War etwa – wie in vielen Fällen – ein kleines Waldstück, in dessen Nähe ein Ort entstand, der Ausgangspunkt der Benennung, so konnte dieser Zusammenhang von Name und örtlicher Gegebenheit durch Rodung des Gehölzes leicht verloren gehen. Diese Verflechtung erkannte bereits der Sprachwissenschaftler und Altertumsforscher Jacob Grimm (1785-1863) in seinem 1840 erschienenen Aufsatz „Über hessische Ortsnamen“:

Alle eigennamen sind in ihrem ursprung sinnlich und bedeutsam: wenn etwas benannt wird, muss ein grund da sein, warum es so und nicht anders heisst. Allein diese bedeutung galt für die zeit des ersten nennens und braucht’ nicht zu dauern; der name wird leicht und bald zur abgezognen bezeichnung, deren man sich fort bedient, ohne sich ihres anfänglichen gehalts zu erinnern.

Dieser Prozess des allmählichen Vergessens der ursprünglichen Auswahlkriterien eines Ortsnamens wird besonders dadurch verstärkt, wenn die Wörter selbst, die in einem Ortsnamen enthalten sind, ihre Bedeutung verändern bzw. die mit ihnen bezeichneten Dinge sich wandeln oder aber – sowohl die Wörter oder die Dinge – gänzlich verschwinden. Wenn der ursprüngliche Sinn eines Ortsnamens also nicht mehr verstanden wird, dann kann sich auch seine lautliche Gestalt bis zur Unkenntlichkeit verformen.

(h)lâr-

Ein solcher Fall liegt auch im Namen des münsterischen Ortsteils Roxel vor. Das erkennen wir daran, dass wir ihn in seiner heutigen Prägung nicht mehr verstehen. Oder wissen Sie, liebe Leserinnen und Leser, was ein „Roxel“ sein soll? Doch auch die historischen Formen des Ortsnamens geben dem Betrachter Rätsel auf, weil die im Namen enthaltenen Begriffe heute ebenfalls nicht mehr in unserer Gegenwartssprache existieren. Die Wörter sind quasi „ausgestorben“.

Der Name Roxel erscheint erstmals 1177 als Beiname eines „Arnoldus de (von) Rukeslare“ bzw. eines „Bernhardus de (von) Rokeslere“. 1214 tritt dann eine „Gertrudis de Rokeslare“ in Erscheinung, 1242 wird das Kirchspiel (parrochia) „Rokeslere“ genannt. Der Name ist für den Namenforscher am sinnvollsten in die Teile Rukes-, Rokes- und -lare, -lere zu zerlegen. Doch was meinen diese Wörter? Der zweite Teil ist ein Wort, das in Westfalen auch heute noch in vielen Orts- und Flurnamen namens Laer, Laar oder Lahr bzw. Leer begegnet. Selbst im heutigen Stadtgebiet Münsters gibt es den Namen Laer, der eine Bauerschaft des Kirchspiels St. Mauritz benannte und 1280 erstmals in der Form „in Lare“ erscheint.

Lange Zeit stritten sich die Gelehrten über dieses Namenwort. Doch 1963 konnte der rheinische Sprachwissenschaftler Heinrich Dittmaier das Rätsel lösen. Der Namenbestandteil geht auf altniederdeutsch hlâr oder hlâri zurück, was soviel wie ‚Zaun, Pferch, aber auch Siedlung oder Wohnung‘ bedeutet (^ kennzeichnet einen langen Vokal). Dass Bezeichnungen für den Zaun auch die Siedlung selbst meinen können, zeigt die Entwicklung des englischen town ‚Stadt‘, das aus germanisch *tûna ‚Zaun‘ entstanden ist (* kennzeichnet eine nicht belegte, sondern erschlossene Form). Das h vor dem l in hlâr oder hlâri ist im Fall Roxels bereits vor der ersten schriftlichen Erwähnung geschwunden. Aber in anderen historischen Ortsnamenbelegen ist es noch enthalten, etwa in dem Ende des 9. Jahrhunderts genannten „Beranhlara“, dem heutigen Berl bei Sendenhorst.

Allerdings ist die Erklärung Dittmaiers in letzter Zeit in Frage gestellt worden. Der bekannte Namenforscher Jürgen Udolph und seine Mitarbeiter behaupten vielmehr als Anschluss für das Namenwort (h)lâr ein Wort lâr (ohne anlautendes h!) mit einer nirgends belegten Bedeutung ‚lichter Wald‘. Allerdings stehen dieser Erklärung, die leider auch Eingang in die bisher erschienenen Bände des im Entstehen begriffenen Westfälischen Ortsnamensbuches gefunden hat, gewichtige sprachliche Gründe entgegen, auf die der Germanist und Namenforscher Paul Derks hingewiesen hat. Denn das angebliche Wort lâr, das Udolph aus dem dem Niederdeutschen nah verwandten Altenglischen erschlossen hat, nämlich aus læs, læswe ‚Viehweide‘, lautet niemals auf h an, das niederdeutsche (h)lâr ausweislich der Quellenzeugnisse für die Frühzeit immer. Somit hat das h, das damals noch als ch zu sprechen ist, eine lautliche Bedeutung und niederdeutsches Namenwort hlâr/hlâri kann nicht mit altenglisch læs, læswe ‚Viehweide‘ verbunden werden. Es ist also weiterhin Dittmaiers Erklärung zu folgen und das Namenwort hlâr/hlâri als Zaun- und/oder Siedlungsbegriff zu verstehen.

Rukes- / Rokes-

Doch was meint der erste Teil des Ortsnamens Rukeslare/Rokeslere, des späteren Roxels? Auch das Wort Rukes-, Rokes- kennen wir heute nicht mehr. In Frage kommt hier wohl nur altniederdeutsch hrôk, mittelniederdeutsch rôk ‚Krähe‘. Rukes-, Rokes ist dann der Wessenfall (Genitiv). Somit ergibt sich „Krähenpferch‘ oder ‚Krähensiedlung‘ als Übersetzung von Roxel. Natürlich kann das vermehrte Vorkommen von Krähen den Namen motiviert haben, doch ist für einen Siedlungsnamen noch eine andere Erklärung wahrscheinlicher: Nicht die niederdeutsche Vogelbezeichnung für die Krähe steckt im Namen, sondern ein von der Tierbezeichnung abgeleiteter männlicher Rufname *Hrôk oder *Rôk.

Dass ein solcher Vor- oder Beiname einer Person nicht ungewöhnlich ist, zeigen etwa die alten niederdeutschen männlichen Rufnamen wie Hraban bzw. Rave ‚der Rabe‘ oder andere Rufnamen, die auf Tierbezeichnungen zurückgehen, etwa auf den Wolf. Roxel ist also entweder die ‚Krähensiedlung‘ oder wahrscheinlicher die ‚Siedlung eines Mannes namens *Hrôk, *Rôk‘. Letzter ist dann als der ursprüngliche Eigentümer oder Grundherr der Siedlung anzusehen.

Roxel bei Wadersloh

Noch eine Kuriosität am Ende: Auch in Wadersloh gibt es ein Roxel, das heute gleichlautend mit dem münsterischen Roxel ist. Doch hat der Ortsname Roxel bei Wadersloh einen etwas anderen Ursprung. Die historischen Belege 1231 „in Rokeslo“, 1260 (1261) „in Rokeslo“ zeigen, dass dieser Name nicht mit dem Grundwort (h)lâr ‚Zaun, Pferch, Wohnung, Siedlung‘, sondern mit mittelniederdeutsch lô ‚Niederwald, Hudewald, Busch‘ zusammengesetzt ist. Roxel bei Wadersloh bedeutet also entweder ‚Krähenwald‘ oder ‚Wald eines Mannes namens *Hrôk, *Rôk‘.