Von Dörfern, Zäunen und Wehren

Warendorf ist die Kreisstadt des gleichnamigen Kreises und weist heute eine Bevölkerungszahl von etwa 40.000 Einwohnern auf. Stadtrechte erhielt der Ort bereits um das Jahr 1200 durch Bischof Hermann II. von Münster (amtierte von 1174 bis 1203). Und doch weist der Name Warendorf als Dorf aus. Wie kann das sein? Die Lösung dieses Rätsels besteht zum einen im Alter des Ortsnamens und zum anderen in der Bedeutungsentwicklung des Wortes „Dorf“. Denn der Ortsname ist älter als die Stadtgründung und das Wort Dorf bedeutete nicht immer Kirchdorf, wie es heute der Fall ist.

Erstmals erwähnt wird Warendorf im sogenannten Freckenhorster Heberegister, das leider nicht datiert ist und dessen Entstehung daher nur ungefähr zeitlich eingeordnet werden kann. Vermutlich wurde das Abgabenverzeichnis im Zuge der Neuordnung des Pfründenwesens des Klosters um 1090 angelegt. Damals wird der Ort als „Warantharpa“ verzeichnet. Erwähnt wird „Fahrendorpe“ allerdings ebenfalls in der vermeintlichen Gründungsurkunde des Klosters Freckenhorst, die angeblich aus dem Jahr 851 stammt. Doch ist bereits lange bekannt, dass es sich hier um eine Fälschung des 18. Jahrhunderts handelt, weshalb dieser scheinbar frühe Beleg ausfällt. Somit stammt die Ersterwähnung aus der Zeit um das Jahr 1090. Schon im 12. Jahrhundert erscheint dann die Form „Warendorp“, die hochdeutsche Lautung mit f am Ende tritt seit dem 17. Jahrhundert in Erscheinung.

Das Wort Dorf

Das Wort Dorf, niederdeutsch Dorp, das in vielen Ortsnamen auch in den Varianten -drup, -trup, -torp oder -tarp auftritt, kann neben (Kirch-)Dorf im heutigen Sprachgebrauch auch Weiler ohne Gotteshaus oder sogar Einzelhöfe benennen. Lange haben Sprachwissenschaftler an diesem Phänomen gerätselt. Denn erst 1977 hat der münsterische Sprachwissenschaftler und Mediävist Rudolf Schützeichel (1927-2016) die zahlreichen Forschungen zum Wort Dorf zusammengefasst und eine einleuchtende Erklärung vorgelegt. Dabei konnte er bereits auf wichtige Studien seiner ebenfalls in Münster forschenden und lehrenden Vorgänger Theodor Baader (1888.-1959) und William Foerste (1911-1967) zu diesem Problem zurückgreifen.

Schützeichel kam zu dem Schluss, dass die Grundbedeutung des Wortes Dorf ‚Einfriedung‘ gewesen sein müsse. Diese allgemeine Bedeutung dürfte das Wort noch besessen haben, als es im 4. Jahrhundert in der gotischen Bibelübersetzung des Bischofs Wulfila erstmals in einer germanischen Sprache als thaurp erschien. ‚Zaun‘ oder ‚Einfriedung‘ bedeutete das Wort auch noch in der altnordischen poetischen Umschreibung (Kenning) geirthorp für den Kampfschild, der hier metaphorisch als ‚Pferch der Speere (geir = Ger = Speer)‘ erscheint. In geirthorp meint der Bestandteil -thorp also den Eisenrand des Schildes als dessen Begrenzung.

Aus dieser Grundbedeutung konnte sich dann die breite Bedeutungspalette des Wortes in den germanischen Sprachen entwickeln, die von Herde, Ansammlung, Menge, Pferch, Gehege, umzäunter Platz bis Einzelhof und Gruppensiedlung reicht. Diese Objekte haben alle eines gemeinsam: Sie waren umzäunt bzw. lassen sich aus dem Umzäuntsein erklären. Nicht der Gegensatz zwischen Einzelhof und Gruppensiedlung wurde also ursprünglich mit „Dorf“ ausgedrückt, sondern die Gemeinsamkeit war vielmehr die Umzäunung oder Einfriedung.

Vergleichbar ist die Entwicklung des gemeingermanischen Wortes Zaun, das im Niederländischen als tuin den ‚umzäunten Garten‘ und im Englischen als town einen ‚umzäunten Wohnplatz‘ bzw. heute eine ‚Ortschaft, Stadt‘ bezeichnet. Ursprünglich meinte Dorf also den ‚umzäunten Platz‘ oder das ‚eingefriedete Gelände‘, später das ‚umzäunte Gebäude‘ oder die ‚Gebäudegruppe‘. Aufgrund dieser Erkenntnis lässt sich auch das Rätsel der Etymologie des Wortes lösen. Denn die Frage, ob „Dorf“ urverwandt ist mit lateinisch turba ‚Menge‘ oder lateinisch trabs ‚Balken‘, fällt damit zugunsten des Balkens als Bestandteil einer festen Einfriedung aus.

Im Hochmittelalter scheint sich im Münsterland bereits die Bedeutung von Dorf als Gruppensiedlung durchgesetzt zu haben. Denn das oben genannte Freckenhorster Heberegister benutzt das Wort tharp (Dativ: tharpa) ausschließlich für aus mehreren Bauernstellen bestehende Siedlungen, während der Einzelhof als hof (Dativ: hova) erscheint.

Waran-

Doch was steckt im ersten Teil des Namens? Was meint das Erstglied Waran-, an den das -dorf angehängt ist? Wohl aufgrund des Belegs der gefälschten Freckenhorster Gründungsurkunde („Fahrendorpe“) meinte der münsterische Domkapitular Adolf Tibus (1817-1894), der sich auch mit den Ortsnamen des Münsterlandes beschäftigt hat, im Jahr 1890, dass Waran- zum Wort far ‚Überfahrt‘ zu stellen sei, Warendorf also die Siedlung an der Überfahrtsstelle meine. Doch lautet der Name – abgesehen von der gefälschten Gründungsurkunde aus dem 18. Jahrhundert – niemals mit f, sondern immer mit w an.

Der westfälische Landeshistoriker Wilhelm Kohl (1913-2014) hatte eine andere Idee. Er vermutete im ersten Teil des Namens einen Rufnamen Warin und schloss daraus, dass es sich um die Siedlung eines Grafen Warin gehandelt habe, der angeblich ein Nachkomme des karolingischen Grafen Ekbert und der später heiliggesprochenen Ida von Herzfeld gewesen sei. Damit wäre dann der Ortsname Warendorf sogar in das 9. Jahrhundert zu datieren. Doch hat der Namenforscher Paul Derks diesen Anschluss grundsätzlich abgelehnt, weil Waran- nicht zu Warin passt, der immer ein i hat, niemals aber ein a in der zweiten Silbe. Zudem flektiert der Name Warin stark, das heißt die Siedlung eines Warin hätte *Warinstharpa mit Genitiv-s in der Mitte lauten müssen (das Sternchen vor einem Namen/Wort zeigt an, dass es sich um eine erschlossene Form handelt). Waran- hingegen könne höchstens der Wessenfall eines Personennamens *Waro oder *Wâro sein (^ kennzeichnet einen langen Vokal).

Derks hingegen schließt den Bestandteil Waran- an altniederdeutsch wara- ‚Zaun, Flechtwerk, Fischwehr‘, auch *‚gehegter Wald‘ an. Waranthorpa > Warendorf meint also eine ‚Siedlung an den Zäunen‘, ‚an den Fischwehren‘ oder ‚an den gehegten Wäldern‘. Da der Ort an der Ems gelegen ist, dürften die Fischwehre zum Fangen von aquatil lebenden Tieren wohl die wahrscheinlichste Erklärung des Ortsnamens sein.