Was hat die Drossel mit der Ziege zu tun? Und der Spatz mit dem Haus? Oder gar mit Lüneburg? So ganz eindeutig lassen sich diese beiden Fragen nicht beantworten. Allerdings müssen unsere Vorfahren jeweils einen Zusammenhang gesehen haben, denn sie benannten die beiden Vögel nach der Ziege bzw. dem Haus.
Geitling
Die Drossel heißt im Osnabrücker Plattdeutschen nämlich neben jüngerem Druossel auch Geitling oder Gaitling. Und in diesem Begriff steckt eindeutig die mittelniederdeutsche geite, gête, also die ‚Geiß, Ziege‘. Geitling ist somit – wegen des Bestandteils -ling, der eine Zugehörigkeit ausdrückt – als ‚der zur Ziege Gehörige, der Ziegeling‘ zu übersetzen. Schon im Altniederdeutschen, der ältesten belegten Sprachstufe des Niederdeutschen (800 bis 1200), wird dieser Zusammenhang deutlich. Neben dem Wort gêt, das in den Oxforder Vergil-Glossen aus dem 10. oder 11. Jahrhundert mit lateinisch capra ‚Ziege, Geiß‘ übersetzt wird, findet sich im Altniederdeutschen auch der gêthirdi, der ‚Ziegenhirte‘, und als parallele Wortbildung zudem der gêtfugal, der ‚Geißvogel‘, als Bezeichnung für die Schwarzdrossel oder Amsel.
Bisher ist noch nicht geklärt, warum die Vogelart mit der Ziege in Verbindung gebracht wird, aber das ist auffälligerweise auch in anderen Sprachen so. Im Rheinischen gibt es beispielsweise umgekehrt den Ausdruck Merlenbütschel für das weibliche Ziegenlamm, in dessen ersten Teil die Merle ‚Amsel‘ (< lateinisch merula ‚Amsel‘) steckt. Möglicherweise hilft das plattdeutsche Wort Geetkarpe ‚weiblicher Karpfen‘ weiter. Auch hier dürfte die Gêt(e) ‚Geiß‘ enthalten sein. Vielleicht wurde das Erstglied zur Kennzeichnung eines weiblichen Tieres gewählt, nachdem sich Gête/Geiß durch die Konkurrenz von Ziege auf die Bedeutung ‚Mutterschaf, Muttertier‘ verengt hatte.
Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch noch auf den Vogelnamen Ziegenmelker (lateinisch caprimulgus, niederländisch geitenmelker, englisch goatmilker), der auf die bereits antike Vorstellung zurückgeht, dass dieser nachtaktive Vogel die Ziegen in den Ställen besuche, um ihnen Milch auszusaugen.
Ziege und Geiß
Während sich der Geitling im Plattdeutschen bis heute erhalten hat, ist das Wort Gêt, Geite vollständig von dem mitteldeutschen Wort Ziege verdrängt worden, das lautlich etwas umgestaltet als Siäge (mit scharfem, stimmlosen s) oder Schiäge, geschrieben sêge oder schêge im Spätmittelalter seinen Siegeszug antrat.
Ein früher Nachweis für die Region findet sich im Weistum für die Ostbeverner Mark von 1339. Hier kommt die Form tegen für die Ziegen vor, bei der es sich vermutlich um eine hyperkorrekte Bildung handelt. Der Schreiber wusste also, dass hochdeutschem z, das es im Niederdeutschen nicht gibt, niederdeutsch t entspricht (vgl. Zeit – Tied) und passte die Form der niederdeutschen Lautung an.
Der Spatz und das Dach
Der Spatz oder Sperling heißt im Niederdeutschen Lüning. Die älteste historische Form stammt aus dem 10. Jahrhundert (Glossen des Essener Evangeliars) und lautet im Plural hliuningos (Einzahl ist dann hliuning). Die volkssprachliche Glosse dient der Übersetzung des lateinischen Begriffs passeres, der ‚Sperlinge‘ bedeutet. Über den Ursprung dieses alten niederdeutschen Wortes ist viel gerätselt worden. Allerdings scheint die annehmbarste Lösung zu sein, dass der Vogelname zu hliun zu stellen ist, einer Umlautform von hleo ‚Schutz, Obdach‘. Der Umlaut von eo zu iu wurde durch das i des nachfolgenden -ing bewirkt.
Zum Wort hleo gehört auch altenglisch hleonath ‚Wohnung, Haus‘. Lüning ist also als ‚häuslicher Vogel, Vogel des Hauses‘, wörtlich ‚Häusling‘ zu übersetzen, der als Kulturfolger die Nähe menschlicher Behausungen sucht. Zu diesem Begriffsfeld um Schutz und Wohnung gehört sicherlich auch der Ortsname Halene bei Ahlen, der um 900 als Hleon erscheint, ferner die Ortsnamen Lünen, Lünern bei Unna und Lüneburg.