Nachdem der Autor im ➤ ersten Artikel dieser Serie auf seinen Heidegängen erste innere Verwandtschaften der Texte von John Clare und Annette von Droste-Hülshoff herausgearbeitet hat, taucht er nun tiefer in ihre Gedichte ein und spürt vor allem dem Gefühl der Abwesenheit nach, das sich in der Heide schnell einstellen kann. Trotz oder gerade wegen der intensiven Kultivierung ist dieser Eindruck heute vielleicht noch intensiver als vor 200 Jahren.
Nachdem ich das Rüschhaus hinter mir gelassen habe, befinde ich mich erst einmal in einem der von Annette von Droste-Hülshoff erwähnten Wäldchen, die die Heide auflockern. Hier sind wir schon inmitten einer Landschaft der Übergänge voll zeitlicher Schichtungen. Einer dieser Übergänge ist die Spiegelung des Anwesenden im Abwesenden und so gewinnt besonders ein Vogelhäuschen, dass verlassen und ungenutzt unter einem Baum am Wegesrand steht, eine besondere Bedeutung für mich. Es evoziert Gefühle einer noch nachklingenden Präsenz, wie sie vergleichbar in Drostes Gedicht ‚Die tote Lerche‘ und in Clares ‚The Sky Lark Leaving Her Nest‘ (Die Lerche Verlässt Ihr Nest) zu finden sind.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich beide in diesen Texten wie so häufig just einem geflügelten Heidebewohner widmen. Droste-Hülshoff spricht zuerst den Status des eigenen Dazwischen explizit an, wenn sie schreibt „Ich stand an deines Landes Grenzen, / An deinem grünen Saatenwald“. Diese Position erlaubt das Auftauchen einer Lerche im Blickfeld – doch nach einem kurzen Aufblitzen ihrer Lebendigkeit verschwindet sie wieder und lässt die textimmanente Beobachtungsinstanz allein zurück:
Da plötzlich sank und sank es nieder,
Gleich toter Kohle in die Saat;
Noch zucken sah ich kleine Glieder,
Und bin erschrocken dann genaht.
Dein letztes Lied, es war verklungen,
Du lagst ein armer, kalter Rest,
Am Strahl verflattert und versungen,
Bei deinem halbgebauten Nest.
Im Erfahrungsraum der Heide schieben sich Leben und Tod auf existentielle Weise ineinander, „gleich toter Kohle in die Saat“. Es ist bezeichnend, dass in dieser Weite besonders die einzelnen Geräusche in Erinnerung bleiben – ein Phänomen, dem wir wiederholt in Droste-Hülshoffs und Clares Texten begegnen werden. Nicht nur das „letzte[…] Lied“ klingt noch in den Ohren, auch die Bewegung des Vogels klingt noch lautmalerisch im „verflattert“ nach.
In der Erinnerung erhalten
Auch Clare hebt in seinem Text den Gegensatz von Stille und Geräusch hervor, wenn er schreibt „when silence husheth other themes“ (wenn Stille andere Melodien zum Schweigen bringt). Und auch bei ihm führt das Verschwinden der Lerche (hier jedoch nur aus der Sicht und nicht aus dem Leben) zum intensivierten Erleben von Vergänglichkeit in der Gleichzeitigkeit von Anwesenheit und Abwesenheit in der Weite der Heide:
Thourt dropping sudden as a stone
And now thourt in the wheat alone
And still the circle of the sky
And abscent like a pleasure gone
Though many come within the way
Thy little song to peeping day
Is still remembered on
(Plötzlich fällst du wie ein Stein / und bist nun allein im Weizen / und ruhig der Kreis des Himmels // Und abwesend wie ein verschwundenes Vergnügen / obwohl noch viele andere den Weg entlangkommen mögen / wird dein kleines Lied an den blinzelnden Tag / immer noch erinnert)

Die Lerche selbst mag fort sein, aber ihr Lied klingt nach in der Erinnerung – und in diesem Gedicht, dass diese Erinnerung entsprechend erlebbar macht. Wie auch schon in Clares Beschreibung seines frühen Schlüsselerlebnisses auf der Heide, die den Auftakt zum ersten Artikel bildete, ist hier der Himmel – als Kreis mit der Erde verbunden – der Bezugspunkt, der die Beobachterinstanz allein im Raum situiert.
Totenstille
In meinem Landgang im Münsterland, fast 200 Jahre später, steigert sich das Gefühl der Abwesenheit noch, besonders was die Vögel angeht – und das nicht nur wegen der anderen Jahreszeit. Das leere Vogelhäuschen ist hier nur ein erstes Indiz. Laut NABU hat sich die Vogelpopulation in Deutschland allein seit den 1970er Jahren um 34% verringert, bei der von Clare und Droste-Hülshoff beobachteten Lerche liegt diese Zahl speziell für das Münsterland sogar bei einem Rückgang von 80% seit 1980.

Seinen Beginn nahm dieses Lerchensterben schon zu Lebzeiten der beiden Dichter im 19. Jahrhundert. Clare beschreibt, wie sich die Lerchen „nach der ernte in schwärmen sammeln und dann in einigen gegenden in großen mengen gefangen werden, indem man nachts netze über sie wirft“. Es ist also nur der pfeifende Wind in meinen Ohren, den ich höre – oder mal das Rauschen der A1. Der Vogelgesang „abwesend wie ein verschwundenes Vergnügen“ existiert nur noch in meiner Erinnerung, im Klang der Gedichte.
Droste-Hülshoffs und Clares Vögel sind also zu Wiedergängern geworden, literarische Untote, die von einer anderen Zeit künden. Der Himmel im Hier und Jetzt ist einsam und leer, zerfurcht nur von Windrädern, die als einzige noch Bewegung und Geräusch in diesen Raum tragen. Mit wenigen Ausnahmen, wie zum Beispiel den Krähen. Als letzte sind diese verblieben, schwarz auf schwarzen Äckern, und künden gerade durch ihre Anwesenheit von der Abwesenheit aller anderen.

Ich muss an den englischen Begriff für einen Krähenschwarm denken: ‚a murder of crows‘. Umso stärker wird mir der Tod gegenwärtig, selbst hier, mitten in der von Droste-Hülshoff erwähnten „Saat“ der modernen Landwirtschaft. Sie selbst hat dieses Verschwinden, das die Transformation der Moderne mit sich brachte, unter anderem in ihrem Text „Bilder aus Westfalen“ luzide vorausgesehen. Die von ihr in ihren Landgängen erlebten und in den Gedichten reflektierten Übergänge waren demnach nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche:
Bevölkerung und Luxus wachsen sichtlich, mit ihnen Bedürfnisse und Industrie. Die kleineren malerischen Heiden werden geteilt, die Kultur des langsam wachsenden Laubwaldes wird vernachlässigt, um sich im Nadelholze einen schnellen Ertrag zu sichern, und bald werden auch hier Fichtenwälder und endlose Getreideseen den Charakter der Landschaft teilweise umgestaltet haben (…).
Die Wahrheit all dessen habe ich bei meinem Landgang stets vor Augen. Auch Clare beschreibt mitten im liminalen Raum der Heide solche Umbrüche, die in England, dem Mutterland der Industrialisierung, bereits noch weiter fortgeschritten sind:
Sah drei gestalten am ende des Royce-walds, die, wie ich herausfand, den plan für eine ‚Eiserne Bahn Strecke‘ von Manchester nach London entwarfen – sie soll die Rund Eich Quelle an der ecke Royce-wald überqueren richtung Burg Woodcroft
ich hätte nicht gedacht das nach den einhegungen neue störungen meine einsamkeiten unterbrechen würden
sie werden einen sumpfigen Grund am ende des Royce-walds verschandeln der berühmt ist für seine orchiden
Sofort denke ich an die Betonstrecke der A1, die ich vor über einer Stunde hinter mir gelassen habe. Erinnerungsschicht über Erinnerungsschicht. Die Texte der Dichter machen die Geister der Vergangenheit für mich spürbar – auch dies eine Doppelbelichtung der Landschaft, eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Der Gang im nächsten Artikel wird mich tiefer in diese Erinnerungslandschaft hineinführen – dann auch unter Zuhilfenahme psychogeografischer Ansätze.