Über manche Vornamen, die Eltern heute ihren Kindern geben, darf man sicherlich geteilter Meinung sein und auch trefflich streiten. Oftmals werden im Gespräch dann aber die alten Rufnamen beschworen, die – weil bekannt – als „normal“ empfunden werden. Doch mahnt der Historiker zu Vorsicht gegenüber derartigen Pauschalurteilen, weil sich im Laufe der Zeit die Namenmoden doch vielfach gewandelt haben.
Zahlreiche Rufnamen, die die Menschen in Westfalen im Mittelalter trugen, würden heute ebenfalls auf Unverständnis stoßen und als merkwürdig abgeurteilt werden. Das zeigt auch das Beispiel des Ortsnamens Püsselbüren, dessen historische Formen „Pusilemburen“ (um 1150) und „Puslingenburen“ (1160) lauten. Wie auch Ibbenbüren ist der Ortsname mit dem Grundwort -büren gebildet worden, das auf älteres bûriun zurückgeht. Bei bûriun handelt es sich um den Wem-Fall (Dativ) in der Mehrzahl (Plural) zu altniederdeutsch bûri ‚Haus, Hütte‘. Das Wort bûri ist eine niederdeutsche Ableitung von altniederdeutsch bûr ‚Gemach, Wohnsitz‘, althochdeutsch bûr ‚Haus, Wohnung‘, altenglisch bûr ‚Hütte, Kammer‘ und altnordisch búr ‚Kammer, Stube, Vorratshaus‘.
Bestandteil Püssel-?
Man kann den Namenbestandteil -büren also mit ‚bei den Häusern/Hütten‘ bzw. allgemein ‚Siedlung‘ übersetzen. Doch was steckt im ersten Teil Püssel-? Die historischen Formen des Ortsnamens zeigen, dass sich Püssel- aus altem Puslingen- bzw. Pusilem- entwickelt hat. Somit ist ursprünglich von einer Form Pusilingenburen auszugehen. Der Bestandteil Pusilingen ist wiederum in Pusil- und -ingen zu zerlegen.
Ortsnamen, die mit -ingen zusammengesetzt sind, enthalten in den meisten Fällen einen Rufnamen. So steckt in Sigmaringen (Baden-Württemberg) eindeutig der Vorname Sig(i)mar. In Pusilingen ist daher der alte Rufname Pusilo anzusetzen. Die Kombination eines Rufnamens mit -ingen bezeichnet immer eine Personengruppe. In diesem Fall sind das die Pusilinge, also die ‚Leute, die zu einem Pusilo gehören‘. Pusilinge nannte man die Menschen, die einst in Püsselbüren siedelten. Pusilo war ihr rechtliches Oberhaupt, ihr Anführer oder Herr. Der Ortsname Püsselbüren muss also mit ‚bei den Häusern/Hütten der Pusilinge‘ oder ‚Siedlung der Leute eines Pusilo‘ wiedergegeben werden.
Aus heutiger Sicht erscheint Pusilo als ein sehr merkwürdiger Rufname. Das hängt mit seinem hohen Alter zusammen. Seine Altertümlichkeit ist deshalb anzunehmen, weil der Rufname nicht mehr in der schriftlichen Überlieferung erscheint und nur noch aus Ortsnamen erschlossen werden kann. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Ortsname Püsselbüren bereits vor dem Beginn der schriftlichen Aufzeichnungen – in Nordwestdeutschland also vor 800 n. Chr. – gebildet worden ist.
Von Püsselbüren nach England?
Und noch eine Beobachtung lässt auf ein hohes Alter des Ortsnamens schließen: Seit dem frühen 5. Jahrhundert n. Chr. kamen verstärkt Menschen aus Nordwestdeutschland und Skandinavien ins östliche und südliche England, die hier auch sesshaft wurden und ihre Sprache und Kultur mit ins zuvor keltisch und römisch geprägte Britannien brachten. Ihre Königreiche nannten sie nach ihrer Herkunft aus Sachsen und Angeln: East Anglia, Middel Anglia und South Anglia – woraus sich auch der Name England entwickelte -, Wessex (Westsachsen), Sussex (Südsachsen), Essex (Ostsachsen) oder Middlesex (Mittelsachsen).
Diese Landnahme und Verdrängung oder Überformung der einheimischen Bevölkerung Britanniens lässt sich sowohl durch schriftliche Berichte als auch durch archäologische Erkenntnisse fassen. Die alten römischen Städte verfielen in diesem Gebiet, dafür wurden ländliche Siedlungen angelegt, die denen zu jener Zeit in Nordwestdeutschland glichen. Die ältere historische Forschung sah die Träger dieser Expansion vor allem aus den Gebieten des heutigen Schleswig-Holsteins und des Elbe-Weser-Dreiecks stammen. Allerdings haben vor allem namenkundliche Untersuchungen gezeigt, dass das Einzugsgebiet viel größer gewesen sein muss. Die Einwanderer nahmen nämlich einige ihrer Ortsnamen oder bestimmte Bildungselemente mit in ihre neue Heimat und benannten so ihre neuen Siedlungen in England. Dieses Vorgehen zeigt sich also nicht nur anhand der Namen ihrer Königreiche, die sie nach ihrer sächsischen und anglischen Herkunft wählten.
Puslingham und Poslingford
Bereits 1979 veröffentliche Walter Piroth eine aufschlussreiche Studie zu diesem Thema, die allerdings recht unbeachtet geblieben ist. Er untersuchte vor allem die Personengruppennamen, die sich sowohl in England als auch auf dem Kontinent fanden. Diese Bezeichnungen von Gruppen vom Typ Sigmaringen (Sigmaringe = Leute des Sigimar), die sich nach ihrem Anführer benannten, stammen zu einem Großteil aus der Völkerwanderungszeit, also aus der Zeit als England von germanisch sprechenden Menschen besiedelt wurde. Viele dieser Personengruppennamen wie z.B. die Arlinge, Benninge, Barlinge, Billinge, Brüninge, Ellinge, Ebbinge, Everinge, Gelinge, Heddinge, Hallinge, Hardinge, Harlinge, Hemminge, Huninge, Imminge, Lüdinge, Rollinge, Weddinge oder Wellinge sind Massenware und erlauben keine genaue Verortung.
Allerdings gibt es auch sehr seltene Namentypen, die eine genaue Identifizierung nahelegen: Dazu gehört auch der Name Püsselbüren (alt: Puslingenburen, 1160). Die namengebenden Pussilinge kommen nur einmal auf dem Kontinent vor, aber in England finden sie sich in zwei Ortsnamen wieder: Puslingham (Sussex; 1279: Posselinghamme) und Poslingford (Suffolk; 1086: Poselinge[v]orda). Ergänzend hinzu treten die englischen Ortsname Mettingham (Suffolk; 1086: Metingaham), Mattingley (Hampshire; 1086: Matingelege) und Martinhoe (Devon; 1086: Matingeho), die ebenfalls wie das Püsselbüren nah gelegene Mettingen (1082–1088: Mettinge) auf die Leute eines Matto, die Mattinge oder Mettinge, zurückgehen. Südlich von Lingen lebten zudem einst die Sahslinge, die sich im 890 erwähnten Landschaftsnamen Sahslingun erhalten haben. Auch diese haben nur zwei Entsprechungen in England: Saxlingham (Nethergate, Norfolk; 1046: Sexlingham) und Saxlingham (Norfolk; 1086: Saxelingham, Sexelingaham).
Kartiert man diese Möglichkeiten, so könnten die potentiellen frühmittelalterlichen Auswanderer aus Püsselbüren, Mettingen und Sahslingun nach Norfolk und ins angrenzende Suffolk gezogen sein. Die ersten Siedler von Puslingford, Mettingham und der beiden recht nah beieinander gelegenen Orte Saxlingham mögen also aus dem Tecklenburger Land bzw. dem südlichen Emsland gestammt haben. Vielleicht sollten daher Püsselbüren und Mettingen eine Ortspartnerschaft mit Poslingford und Mettingham eingehen. Vielleicht treffen sich dann sehr alte Verwandte wieder.