Gelehrsamkeit ist auch nur eine Art von Faulheit

Samuel Taylor Coleridge und Dorothy und William Wordsworth in Deutschland, 1798-1799. Teil 3: Göttingen und der Harz.

Wir haben die drei Schriftsteller Dorothy und William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge bereits auf ihrer Reise von England nach Hamburg (➤ „Romantiker auf der Reeperbahn“) und anschließend bis Ratzeburg und Goslar (➤ „Verdammt schlechte Straßen durch verdammt herrliche Wälder“) begleitet. Im dritten und letzten Teil folgen wir ihnen nun nach Göttingen, in den Harz und zurück in die Heimat.

Denn während die Wordsworths ihre Deutschlandreise nach dem erfolglosen Aufenthalt in Goslar beenden und über den Harz zurück nach England reisen, realisiert Coleridge seinen Plan und schreibt sich als Student in Göttingen ein. Von dort aus wird auch er den Harz erkunden. Für die drei Romantiker wird ihr Aufenthalt in Deutschland radikal unterschiedliche Konsequenzen für ihren späteren Werdegang haben.

„Ein reizloses Volk, diese Deutschen!“

Die Kälte geht Samuel Taylor Coleridge bis ins Mark, als er sich zwischen dem 6. und dem 12. Februar 1799 in einer zugigen Kutsche auf der Reise von Ratzeburg nach Göttingen befindet. Die Kälte versetzt ihn in eine brütende Stimmung, nach Tanzen oder anderen Vergnügungen ist ihm gerade nicht zu mute. So schreibt er seiner Frau:

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass ich alle Kräfte meines Intellekts verlieren sollte, müsste ich einige Jahre unter Leuten wohnen, für die ich keine Zuneigung empfinde. – Liebe ist die Lebensluft meines Genies, & ich habe noch kein einziges menschliches Wesen in Deutschland gesehen, bei dem es mir überhaupt möglich wäre mir vorzustellen, es zu lieben – nein nicht ein einziges. Für mein Empfinden sind sie ein reizloses Volk, diese Deutschen! (Griggs, S.471)

Er konnte nicht ahnen, dass zeitgleich sein acht Monate alter zweiter Sohn Berkeley daheim in England im Sterben lag. Im Februar waren es die Wordsworths, die die bessere Stimmung verzeichnen konnten, hatte man doch endlich entschieden, das unerquickliche Abenteuer Deutschland ab- und nach Hause aufzubrechen. William Wordsworth zieht später folgende Bilanz:

Wir haben unsere Zeit angenehm genug in Deutschland verbracht, aber wir sind recht froh, nun zurück in England zu sein, da wir seinen Wert zu schätzen gelernt haben“ (Selincourt, S.224).

Zwei Monate werden sie bis Ende April noch in Deutschland verbringen, doch dies sind nur Stationen auf ihrer Rückreise. Für Coleridge hingegen soll seine Zeit in Deutschland noch lange nicht zu Ende sein – und das obwohl seine Frau (unter dem Tod ihres Sohnes leidend) sehnsüchtig auf ihn wartet. Er erfährt hiervon allerdings erst zwei Monate nach dem Ereignis. eine Freunde und Förderer wollten Coleridge vor dieser schlimmen Nachricht schützen und die Früchte seiner Deutschlandreise nicht gefährden – da mussten die Gefühle seiner Frau hintenan stehen. Doch auch dann dauert es auch, trotz vielfacher Bekundungen einer baldigen Rückkehr, noch fünf Monate, bis Coleridge tatsächlich wieder in England ist.

Coleridge in Göttingen

Festgehalten wird er unter anderem durch die Möglichkeiten, die die Universitätsstadt Göttingen zu bieten hatte. Hierhin ist Coleridge am 12.02.1799 seinem ursprünglichen Plan folgend übergesiedelt, um sich dort einzuschreiben, verschiedenen Studien bei den über Deutschland hinaus renommierten Professoren wie Johann Friedrich Blumenbach oder Johann Gottfried Eichhorn nachzugehen und um Material für seine Lessingbiografie zu sammeln.

Die Universitätsbibliothek Göttingen um 1800

An Lessing faszinieren ihn besonders die Parallelen zu seinem eigenen Leben, unter anderem, dass er „von seinen Eltern für einen Posten als Geistlicher vorgesehen war“ (Coburn, #377). Wahrscheinlich sucht Coleridge daher auch den positiven Aspekt in Lessings Spielsucht: diese „öffnete ihn für die Leidenschaften des menschlichen Herzens“ (ibid.). Ähnlich urteilt er auch über seine eigenen Schwächen im Vergleich zu Wordsworth:

Meine vielen Schwächen sind von einigem Vorteil für mich; sie verbinden mich mehr mit der großen Masse meiner Mitmenschen – wohingegen der liebe Wordsworth sein Dasein in schädlicher Weise separiert und isoliert hat, wie mir scheint / Zweifellos sind seine Freuden tiefer und erhabener; / aber gleichzeitig hat er auch mehr Stunden, die sein Fleisch & Blut quälen (Griggs, S.491)

Diese Schwächen sollen aber in Göttingen nicht allzu stark zu Tage treten. Hier ist Coleridges häufige Antriebslosigkeit einer fast manischen Arbeitswut gewichen: er „schreibt und transkribiert 8 bis 10 Stunden am Tag“ (ibid., S.484). Und trotzdem hat er weiterhin Zeit für Geselligkeiten. So beschreibt er mit viel Humor die Tradition des Brüderschaft Trinkens, des „Smolletts [Schmollis]“, wie er es nennt (ibid., S.476). Diese kulminiert im Bruderschaftskuss, den Coleridge jedoch nicht gutheißt: „Diese Küsserei ist eine höchst ekelhafte Angelegenheit – & die Engländer sind bekannt, dagegen eine solche Aversion zu haben, dass sie nie von ihnen erwartet wird“ (ibid.). Wie ungetrübt seine Beziehung zu William und Dorothy Wordsworth trotz der Trennung während ihrer Reise war zeigt sich, als diese auf ihrer Rückreise nach England am 19. oder 20. April auch durch Göttingen kommen. Er begleitet sie fünf Meilen auf ihrer Weiterreise und Wordsworth ist zu Tränen gerührt von dem Gedanken, ihn wieder zu verlassen (ibid., S.490).

Der Harz

Zuvor sind die Wordsworths aber zwischen dem 23. und dem 27. Februar im Harz gewesen, um dort die Natur zu erleben. Coleridge selbst wird eine ähnliche Reise mit sechs Göttinger Freunden einige Monate später, vom 11. bis 18. Mai unternehmen. Die Beschreibungen aller drei zeigen, wie intensiv sie diese Natur erleben, wie auch schon zuvor bei den für die „Lyrischen Balladen“ prägenden Wanderungen durch die Quantocks und Wales. In Dorothys Beschreibung ihrer Wanderung in einem Brief an Coleridge blitzt hier und da ihre akute Wahrnehmung gepaart mit einem poetischen Beschreibungsvermögen auf, für das ihre Tagebücher aus Alfoxdon und Grasmere berühmt sind. So schreibt sie:

Wir beobachteten, dass das brillante Grün des Erdmooses unter den Bäumen in unseren Augen schmerzte, nachdem diese so lange an den Schnee gewöhnt waren“ (Selincourt, S.217).

Doch insgesamt ist auch hier, wie in den gesamten Briefen und Tagebüchern aus der Zeit in Deutschland, der Ton kritischer:

Die Landschaft, durch die wir kamen, war im allgemeinen angenehm und einigermaßen bevölkert, aber die Wege waren entsetzlich; wir mussten häufig wie in den Minen von Stowey in knöcheltiefem Wasser gehen und manchmal in genauso tiefem Schlamm“ (ibid., S.219).

Da das gemeinsame Tagebuch dieses Teils ihrer Deutschlandreise verloren ist (Gittings und Manton, S.92), gibt es nur diesen dreiseitigen Bericht von der Harzwanderung der Wordsworths.

Das überlieferte Material in Coleridges Briefen und Notizbüchern ist da umfangreicher. In Anbetracht des heutigen Zustands des Waldes im Harz ist sein damaliges Augenmerk auf das Baumsterben bemerkenswert. In seinen Notizbüchern ist eine detaillierte Beschreibung auf Deutsch zu finden, die er Wilhelm Jakob Gatterers „Anleitung, den Harz und andere Bergwerke mit Nutzen zu bereisen. Zweyter Theil“ (Göttingen, 1786) entnommen hat. Dieser Text kommt schon 1799 zu folgendem Schluss:

So viel ist gewiss, und durch Erfahrung bestätigt, dass warme, trockne Sommer, und zu gelinde Winter, zumal wenn noch mancherley Unachtsamkeit und Unreinlichkeit in den Forsten dazu kommen sollten, die Verbreitung des Unglücks [der Borkenkäfer] begunstigen können, so wie von der anderen Seite nasse Sommer, und kalte Winter dasselbe verringern“ (Coburn, #436).

Doch auch die Schönheiten des Harzes kommen bei Coleridge nicht zu kurz. Interessant ist hier vor allem ein abschließender Vergleich zur englischen Landschaft:

Unsere Felder & Wiese sind ebenfalls so grün, dass es hier bei den Romanautoren und Beschreibern verbreitet ist zu sagen, wenn sie eine Aussicht loben: ‚Sie hatte eine britische Grüne‘ – all dies & mehr fehlt in Deutschland / aber ihre Wälder sind schöner, & ihre Hügel abwechslungsreicher, & ihre kleinen Dörfer wesentlich interessanter, da jedes Haus für sich steht mit seinem kleinen Garten und Obsthain. […] Dazu kommt, dass das extreme Elend und die Himmel und Erde erschreckende Boshaftigkeit und Ruchlosigkeit unserer englischen Dörfler in Deutschland vollkommen unbekannt sind (Griggs, S.515).

Bei seiner Erkundung des Harzes scheut Coleridge, wie schon in England auch, keine körperlichen Strapazen. Seine kleine siebenköpfige Reisegruppe ist am Ende „ein Krankenhaus an geprellten Zehen, geschwollenen Knöcheln, blasenüberzogenen Fußsohlen und wundgescheuerten Fersen“ (ibid., S.514).

Die Ausbeute der Deutschlandreise

Ende Juli 1799 ist auch Coleridge endlich wieder zurück bei Frau und Kind in England, drei Monate später als die Wordsworths, die am 1.05.1799 bei Yarmouth wieder britischen Boden betraten. Auf dieser interaktiven Google-Maps-Karte sind die Stationen der Romantiker-Reise noch einmal nachzulesen. Coleridges Zeit in Deutschland ist ohne Zweifel länger und erlebnisreicher gewesen als die der Wordsworths. Doch ironischerweise soll er trotz aller guten Vorsätze weniger daraus für seine Zukunft als Dichter ziehen können. Er mag schon während seines Aufenthalts geahnt haben, dass seine extensiven Studien, die Sprachkenntnisse und das viele Lesen letztlich sinnlos bleiben, wenn ihnen das Ziel fehlt. So schreibt er am 6. Mai aus Göttingen an seinen Freund und Gönner Thomas Poole: „Mit dem Vorteil einer großen Bibliothek ist Gelehrtheit nichts, wie mir scheint, als eine Art Ausrede für das Müßig sein“ (ibid., S.494).

Eine interaktive Google-Maps-Karte zeichnet die Reise der englischen Romantiker nach.

Tatsächlich kann Coleridge nichts von den vielen Materialien, auch nicht seine Lessingbiografie, zeitnah in eine konkrete Publikation umsetzen, die ihm so dringend benötigtes Geld oder Ansehen gebracht hätte. Dabei spielt sicherlich auch eine Rolle, dass der Trend für deutsche Literatur in England abrupt unterbrochen wird durch eine politische Haltung, die zu viel demokratisch-aufrührerisches Potential in Texten wie Schillers „Die Räuber“ findet und dieses als destabilisierend im aktuellen Krieg gegen Frankreich ansieht (Ashton, S.156).

Coleridges persönliches Erleben seines fehlenden Erfolgs nach der Deutschlandreise geht sogar so weit, dass er 1800 sein komplettes Versagen als Dichter konstatiert (vgl. Bissig, S.132). Und doch: auf lange Sicht wird die Deutschlandreise einige Früchte für Coleridge tragen, wenn auch vielleicht nicht wie ursprünglich geplant. Für seine weitere Entwicklung als Denker und Philosoph ist sie unabdinglich. Es dauert einige Jahre, bis seine Bedeutung für die Vermittlung deutscher Literatur allgemein anerkannt und gewürdigt wird. Zwar werden schon im Juni 1800 seine Übertragungen der ersten beiden Teile von Schillers „Wallenstein“ veröffentlicht. Doch leider treffen sie bei der Kritik zuerst nur auf „Hohn und Abwehr“ (ibid., S.121) Und als Verfasser der anonymen ersten englischen Teilübersetzung des „Faust“, die 1821 erscheint, wurde Coleridge überhaupt erst vor kurzem identifiziert. (ibid., S.192). In jedem Fall soll die intellektuelle Beschäftigung mit der deutschen Philosophie und Literatur für Coleridge zeitlebens eine große Rolle spielen.

Coleridges Übersetzung von Schillers „Wallenstein“

Wordsworth hingegen scheint wenig direkt von seinem Aufenthalt in Deutschland profitiert zu haben. Die Abgeschiedenheit und das Heimweh dort hat ihn jedoch auf sein zukünftiges Lebensthema zurückgeworfen: die Erinnerung an seine Kindheit und Jugend im Lake District, in Cambridge und im revolutionären Frankreich. Seine Arbeit an dem später als „Präludium“ bekannten Text bleiben in seinem Kopf aber durchgehend mit seinem Freund Coleridge verbunden, dem er auf die Reise nach Deutschland gefolgt war. Nicht umsonst ist das Langgedicht zu Wordsworths Lebzeiten bekannt als „Gedicht, noch ohne Titel, für S. T. Coleridge“.

Und Dorothy Wordsworth? Für sie scheint die Deutschlandreise auf den ersten Blick keine große Rolle in der weiteren Entwicklung ihrer Persönlichkeit gespielt zu haben. Und doch sollte dieser erste Auslandsaufenthalt und die intensive und exklusive Zeit zusammen mit ihrem Bruder nicht zu gering eingeschätzt werden. Er festigt ihre literarische Zusammenarbeit und macht sie mit der deutschen Literatur vertraut, die sie auch später noch las und sogar für Coleridge übersetzt (Gittings und Manton, S.115). Und schließlich lässt die Abwesenheit aus England sie ihre tiefe Verbundenheit mit ihrer Heimat im Lake District vielleicht zum ersten Mal wirklich spüren, die sowohl in Deutschland als auch später in ihrem Reisetagebuch aus Schottland immer wieder als Vergleichspunkt für die Beschreibung und Beurteilung von Landschaften herangezogen wird (ibid., S.148).

Die „deutsche Zeit“ der drei englischen Romantiker, die sie in ihren jungen Jahren erlebten, soll also auf sie alle einen Einfluss haben. Verbleibt noch John Chester. Es ist kein Zufall, dass er in diesem Text bis jetzt noch gar nicht genannt wurde. Der vierte im Bunde wird in den Briefen und Notizbüchern von Coleridge und William und Dorothy Wordsworth nur eine Handvoll Mal erwähnt, obwohl er Coleridge bis zuletzt begleitet. Als Älterer und literarisch nur passiv interessierter Mensch muss er doch zu verschieden gewesen sein, um eine größere Rolle in ihrem Deutschlandabenteuer zu spielen.

Mit bestem Dank an Ingo Löppenberg, insbesondere für den Hinweis auf Wilhelm Jakob Gatterer.