Wenige Baupläne für viele Geschichten

Dass die meisten Geschichten, die wir hören, lesen oder sehen, gar nicht neu sind, hat der ➤ erste Teil unseres Kurzgeschichtenkompasses gezeigt. Wie auch, bei so vielen tausend Jahren Menschheitshistorie und noch tausendmal mehr erzählten Geschichten? Jeder Mensch mag andere Geschichten und es gibt so viele verschiedene, dass es oft schwer ist, sich für „die richtige“ zu entscheiden. Nichts ist schließlich ärgerlicher, als wenn man das Gefühl hat, seine Zeit mit einer Serie oder einem Buch verschwendet zu haben, das einem nicht gefällt.

Im Internet gibt es Seiten, die einem helfen können, das nächste Buch, den nächsten Film oder die nächste Serie zu finden. Auf der Seite ➤ autum.com kann man beispielsweise wählen, ob man etwas aus den Kategorien Genre, Setting oder Story sehen möchte. Im Genre „Fantasy“ wird dann zum Beispiel „Herr der Ringe“ angeboten, das Genre „Dystopia“ schlägt „Matrix“ vor und eine Story aus dem Bereich „Kids & Family“ gibt es mit „Harry Potter“.

Das sind alles völlig unterschiedliche Geschichten mit einer ganz eigenen Handlung. Wenn man sich allerdings näher damit beschäftigt, stellt man schnell fest, dass viele Filme und Serie auf einem ähnlichen Bauplan basieren. Sara McGuire hat ihn am Beispiel von sechs legendären Leinwandepen ➤ nachgezeichnet. Dabei handelt es sich um die sogenannte „Heldenreise“, welche die Erlebnisse eines oder mehrerer Protagonisten von einem Ausgangspunkt über verschiedene Bewährungsproben bis hin zur Lösung der geschilderten Konflikte beschreibt. (Vor knapp zwei Jahren haben wir in diesem Zusammenhang Christopher Voglers Buch „The Writer’s Journey“ ➤ vorgestellt, das natürlich immer noch als Standardwerk gilt.)

Zwanzig Plots! Oder reichen auch zwei?

Die Heldenreise beschreibt eine weit verbreitete, ja vielleicht archetypische Grundstruktur von Geschichten, passt aber doch nicht auf alle Handlungsverläufe und Figurenkonstellationen. Christopher Booker definiert in seiner 2004 erschienenen Abhandlung „The Seven Basic Plots. Why We Tell Stories“ sieben grundlegende Erzählmuster. Alle Geschichten, so Booker, gehören zu einer der folgenden Kategorien: „Das Monster überwinden“, „Vom Tellerwäscher zum Millionär“, „Die Suche“, „Reise und Rückkehr“, „Komödie“, „Tragödie“, „Wiedergeburt“. Ronald B. Tobias will 1993 dagegen gleich „20 Masterplots“ ermittelt haben, andere Autorinnen und Autoren plädieren für noch mehr – oder für deutlich weniger. Dem weltbekannten Trillerautor Lee Child zufolge gibt es beispielsweise nur zwei Plots: „Da draußen ist irgendwas.“ Und: „Jemand verlässt die Höhle. Und dann kommt er zurück.“

Wir halten fest, dass Geschichten Strukturen folgen und diese Strukturen uns zumindest unbewusst durch unsere bisherigen Lese-, Hör- oder cineastischen Erfahrungen geläufig sind. Wenn eine Geschichte von dem uns bekannten Muster zu sehr abweicht oder Teile fehlen, irritiert uns das. Bei allen bisher genannten Plots fällt uns sofort eine Story mit ihren typischen Merkmalen ein.

Schon Aristoteles hat vor über 2000 Jahren eine Definition für eine funktionierende Handlung gegeben, die bis heute Gültigkeit bewahrt hat und nach der auch in Hollywood gearbeitet wird: Ein Protagonist will etwas, ein Antagonist steht diesem Wunsch entgegen. Hieraus ergibt sich ein Konflikt, der die Handlung vorantreibt und über eine Entwicklung bis zur Lösung führt. Diesen Aufbau werden wir uns noch genauer ansehen.

Im nächsten Teil unseres Kurzgeschichtenkompasses werden wir sehen, welche Teile eine Geschichte braucht, um zu funktionieren.